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Archiv-Artikel

Blindes Vertrauen

Helden-Steckbrief

NAME: Thomas Nicolai ALTER: 57 TAT: Gründete die Initiative „Tandem-Hilfen“ KONTAKT: www.tandem-hilfen.de WÜRDE PREISGELD VERWENDEN FÜR: Neue Tandems

Der taz-Panter für besonderes soziales und politisches Engagement wird in diesem Jahr zum dritten Mal verliehen. Es gibt eine LeserInnenwahl und eine Juryentscheidung. Am 11. August beginnt die LeserInnenwahl. Die beiden Preise werden am 15. September in Berlin verliehen. www.taz.de/panter

Panter-Kandidat (3): Der 57-jährige Thomas Nicolai gründete die Initiative „Tandem-Hilfen“ in Berlin

Wenn Thomas Nicolai aus seinem Wohnhaus in Berlin-Mitte tritt, muss er vorsichtig sein. Er ist sehr stark sehbehindert, leicht könnte er von einem dort mangels Fahrradweg auf den Gehwegen rasenden Drahtesel erfasst werden – zum Beispiel von einem der hippen Tandems, die gerne von Touristen gemietet werden. Von frisch Verliebten etwa, die das zukünftige „An-einem-Strang-Ziehen“ üben, aber auch von Vater und Sohn: Der Sohn sitzt natürlich auf dem hinteren Platz, strampelt und schaut verdrießlich drein.

Als Thomas Nicolai die Tür öffnet, zeigt er seinen Gästen ein freundliches Lächeln, vielleicht auch, um ihnen die Befangenheit gegenüber seiner Behinderung zu nehmen – obwohl er vielmehr Grund hätte, unsicher zu sein, schließlich kann er das Gesicht seines Gegenübers nicht erkennen: Hat er gute oder schlechte Absichten?

„Man ist daran gewöhnt, auf andere Menschen angewiesen zu sein. Es geht eben nur gemeinsam“ sagt Nicolai. Es macht ihm nichts aus, den vorderen Platz auf dem Tandem seiner Frau zu überlassen: „Auf dem Tandem fühle ich mich frei und glücklich“, sagt er. Eine Erfahrung, an der er möglichst viele Sehbehinderte teilhaben lassen will. Zusammen mit anderen Mitstreitern gründete er die private Initiative „Tandem-Hilfen“ zur Förderung des Tandemsports sowie zur Integration blinder und sehbehinderter Kinder, Jugendlicher und Erwachsener. Seit 2004 organisiert die Initiative Hilfsprojekte; dank zahlreich akquirierter Sponsoren wurden mittlerweile „Hilfsmittel“ im Wert von rund 75.000 Euro an Blinden- und Sehbehindertenschulen und -verbände in osteuropäischen Ländern verteilt: Blindenstöcke, Punktschrift-Schreibmaschinen. Und natürlich Tandems, 13 an der Zahl. Ein gutes Tandem kostet 3.000 Euro, manchmal gibt es Schnäppchen für rund 600 Euro. Ein Preis, den viele Menschen in Osteuropa und Russland einfach nicht zahlen können.

Angefangen hat alles mit einer Reise. Zusammen mit seiner Frau und einem weiteren Duo war Thomas Nicolai zu den Paraolympischen Spielen in Athen gefahren. Mit dem Tandem. 3.000 Kilometer in sechs Wochen, ohne Sturz und Reifenpanne durch Tschechien, Ungarn und den Balkan – mit Hilfsmitteln im Wert von 25.000 Euro im Gepäckwagen: „Wir wurden überall sehr herzlich empfangen. Und es war ein tolles Gefühl, als wir in Athen angekommen waren. Es war ja im Vorfeld nicht klar, ob man das wirklich bewältigt.“ Ein Triumph über die eigene Behinderung und das gute Gefühl, anderen Menschen helfen zu können. Nach diesem Erlebnis hat Thomas Nicolai einfach weitergemacht, Touren nach St. Petersburg und durch das Baltikum organisiert. Um möglichst viele junge Menschen mit dem Tandemsport und über Grenzen hinaus miteinander in Kontakt zu bringen, veranstaltet Tandem-Hilfen sogar internationale Tandem-Camps. Bei den nächsten beiden Treffen – in Boltenhagen an der Ostsee und in Königs Wusterhausen bei Berlin – werden sich über 60 junge Leute aus den baltischen Staaten, aus Polen, Russland, der Slowakei, aus Tschechien und aus Deutschland treffen. Rund 350 Euro sind nötig, um die Teilnahme eines ausländischen blinden Jugendlichen an einem solchen Tandem-Camp zu ermöglichen. Wenn es sein muss, greift Thomas Nicolai sogar zur Gitarre und veranstaltet ein kleines Konzert, um Spendengelder zu sammeln.

Thomas Nicolai, geboren im thüringischen Talbürgl, ist von frühester Kindheit an stark sehbehindert. Im Alter von zehn Jahren musste er in ein Internat für Sehbehinderte in Weimar: „Es war schön, andere Sehbehinderte kennenzulernen, aber eigentlich war mir das dann alles zu leicht, ich war es ja gewohnt, zu kompensieren“, erklärt er. Die „Rückintegration“ gelang ihm jedoch spätestens mit dem Eintritt in sein Studium der Kulturwissenschaft in Leipzig. Mit Lupe und Brille, mit Texten, die er sich von Kommilitonen auf Band hatte sprechen lassen, schaffte er es in der Regelstudienzeit und wurde schließlich stellvertretender Leiter des Kulturhauses in Schwedt an der Oder.

Heute arbeitet Thomas Nicolai als Redakteur der Blindenzeitschrift Die Gegenwart. Noch, denn schon in naher Zukunft möchte er sich dank Altersteilzeit verstärkt den Tandem-Hilfen widmen. Das Tandem, Symbol der Kooperation, des gemeinsamen Handelns, hat ihn sein ganzes Leben begleitet: „Schwierig wurde es, als die DDR ihre Tandemproduktion in den 60er-Jahren eingestellt hatte. Da musste ich auf ein polnisches Klapptandem zurückgreifen.“ Erst viel später wurden auf Betreiben des Blindenverbandes der DDR wieder Tandems gebaut – von einer Schweriner Metallfirma.

Es ist trotz seiner Behinderung immer vorangegangen im Leben von Thomas Nicolai – vielleicht träumt er deshalb im Moment davon, einmal zu Fuß von Berlin in seine Heimatstadt in Thüringen zu wandern, „den Rückweg beschreiten“, wie er sagt. Ein bedachter Mensch, der begriffen hat: „Es geht nur gemeinsam.“ Und genauso lautet das Motto von Tandem-Hilfen.

An der Haustür von Thomas Nicolai rauscht die nächste Fahrradformation vorbei: eine Rikscha. Ein Prekärer fährt solvente Touristen gegen Entgelt durch Berlin-Mitte. Diese Form des Radfahrens entspricht so gar nicht dem Denken und Handeln des Thomas Nicolai.

MARTIN REICHERT