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Archiv-Artikel

Mehr als ein Kilometer Gaffertape

KLEBEN LEBEN Klebeband ist die „neue Farbe“ für den Grafiker Bruno Kolberg. Er gehört zur Berliner Klebebande, die auch Musik und Theater mit Gafferband interpretiert. Ab morgen in der Kunsthalle Platoon zu sehen

Noch ist die Szene klein, die vor rund drei Jahren gegründete Klebebande zählt sich zu den Pionieren

VON NADINE EMMERICH

Ecken plus Flächen minus Kanten gleich zwei: Der Euler’sche Polyedersatz ist die Grundlage der neuen Rauminstallation der Klebebande in einem Container der Kunsthalle Platoon. Gemäß der Formel geht es um geometrische Körper wie Pyramiden und Tetraeda, aber auch Flammen, Wolken und Wellen sollen aus Gafferband entstehen. Konkreter wissen es die drei Tape-Art-Künstler selbst noch nicht. „Wir lassen oft erst den Ort auf uns wirken, dann überlegen wir, was wir kleben“, sagt Bruno Kolberg. „Viel ist Freestyle.“

Vor der Eröffnung am Mittwoch wird das Künstlerkollektiv drei Tage lang mindestens 1,5 Kilometer Gaffertape verkleben – im Container und draußen an der Fassade. Dort werden die Grundelemente Feuer, Wasser, Luft und Erde zu sehen sein. Während des Klebens werden die Ohrbooten ein Video für ihren Song „Alles nichts – Nichts ist alles“ drehen. Die Klebebande will auch die Beats via Tape Art interpretieren. Ohne Musik kleben sie ohnehin nie.

Ein junges Phänomen der Urban Art

Tape Art ist ein junges Phänomen der Urban Art, das erst seit etwa zwei Jahren bekannter wird. Vor allem mit Gaffer-, aber auch mit Krepp- und PVC-Band kleben die Künstler ihre abstrakten oder figürlichen Werke auf Straßen, Wände oder ganze Fassaden.

Noch ist die Szene klein, die vor rund drei Jahren gegründete Klebebande zählt sich zu den Pionieren. Bandenmitglied Kolja Bultmann schätzt die Zahl der Künstler in Deutschland auf etwa 20, weltweit auf rund 50.

Zu den bekanntesten gehören der Australier Buff Diss und der Niederländer Max Zorn, der nur mit braunem Paketband klebt. Auch der bekannte Berliner Stencilkünstler El Bocho griff schon zum Klebeband. Ab Februar 2015 zeigt die Heyne Kunstfabrik in Offenbach am Main die europaweit erste Tape-Art-Gruppenausstellung mit Arbeiten von sechs internationalen Künstlern und zwei Kollektiven – darunter auch die Klebebande.

Meist wird Tape Art in die Kategorie Streetart einsortiert. Die Klebebande sieht sich dort indes nicht korrekt verortet: Zwar haben die gelernten Grafiker Bruno Kolberg und Bodo Höbing früher auch Graffiti gesprüht, doch Streetart gehört für sie konkret auf die Straße.

„Wir gehen nicht nachts raus und machen eine Wand nach der anderen“, sagt Kolja Bultmann, der sechs Jahre lang die Berliner Galerie Art Cru mitleitete. Die Klebebande hat verschiedene Formate für ihre Kunst entwickelt.

Dazu gehört das Life Taping, bei der sie das Kleben als Show inszenieren. Die Berliner waren wohl auch die Ersten, die Tape Art mit Videokunst und 3-D kombinierten und das sogenannte Tape Mapping schufen.

Tape Art ist Einwegkunst

„Keiner weiß, was man mit Tape noch alles machen kann, wir haben erst einen ganz kleinen Teil ausprobiert“, sagt Kolja, der früher viel malte und Klebeband „die neue Farbe“ nennt. Ihn fasziniert die „Zweckentfremdung“ des schnöden Gafferbandes. Und: „Man kann keine Fehler machen, kein Bild versauen, ganz anders als bei Acryl oder Öl.“

Kolja und Bruno sind aus der Clubszene zur Tape Art gekommen. Vor rund sechs Jahren klebten sie in Clubs und für Partys, viel mit Neonfarben und Schwarzlicht. Erst hieß das noch Raumgestaltung, später kam der Fokus auf die Kunst.

Seit etwa eineinhalb Jahren können sie von Tape Art leben und sind auch in Las Vegas, Istanbul, Mailand, Rom oder Barcelona im Einsatz. Noch nimmt das kommerzielle Kleben etwa für Firmen einen großen Teil ihrer Arbeit ein, künftig soll die reine Kunst aber Übergewicht haben. Beim Theaterfestival Moskau interpretierten sie Anton Tschechows „Der Kirschgarten“ via Tape Art.

Ihre Kunst ist für das Kollektiv auch ein Genre, „das dem Zeitgeist entspricht“. Viele ihrer Arbeiten sehen aus wie am Computer erstellte Grafiken, gradlinig und gepixelt. Auf einem in ihrem Atelier in Kreuzberg stehenden großformatigen Bild in Neonfarben sind Monitore und Screens zu sehen, es zeigt die Reizüberflutung der digitalen Welt. Klebeband im Wert von 500 bis 3.000 Euro geht bei jedem Tape-Art-Projekt drauf – das am Ende immer abgeknibbelt wird und im Müll landet.

Tape Art ist Einwegkunst. „Wir leben von Erinnerungen und Fotos“, sagt Kolja. Ihre Kunst selbst zu Grabe tragen macht die Klebebande aber nicht: „In unseren Verträgen steht immer, dass wir kein Tape entfernen.“

■ „Tape Art Meets Music“ ist vom 20. bis 26. November in der Kunsthalle Platoon, Schönhauser Allee 9, zu sehen. Eröffnung ist am 19. November um 19 Uhr