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Archiv-Artikel

„Nicht unverstanden sterben“

Vereinsgründerin Kim In-Sun will, dass Migranten ihren letzten Weg in vertrauter Umgebung gehen. Die Religion der Betroffenen spielt für sie dabei keine Rolle

taz: Freiwillige Sterbebegleitung liegt nicht jedem. Sind Sie ein besonders guter Mensch?

Kim In-Sun: Bestimmt nicht. Ich lebe hier seit 35 Jahren, 26 davon war ich in Ausbildung. Und die habe ich doch nicht nur für mich gemacht. Ich möchte etwas zurückgeben. Ich möchte Migrantinnen wie mir ersparen, in einer Intensivstation oder einem Altenheim im Wortsinn unverstanden zu sterben. Wir wollen diese Menschen kultursensibel auf ihrem letzten Weg begleiten, in vertrauter Umgebung, in ihrer Sprache und Kultur.

Viele sterben einen einsamen Tod im Krankenhaus?

Leider. Unsere Gesellschaft verdrängt den Tod. Und die Gesetze machen es bisher auch nicht möglich, dass Sterbende von ihren Angehörigen angemessen begleitet werden können. Es wäre eine wichtige Aufgabe für die Politik, ein Gesetz zu schaffen, wonach Menschen, die ein sterbendes Familienmitglied pflegen, mindestens ein halbes Jahr beurlaubt werden können. Das ist viel menschlicher und, nebenbei gesagt, auch billiger als das lange, quälende Sterben auf Intensivstationen.

Sie haben viel Geld in dieses Projekt gesteckt, unter anderem Ihre Lebensversicherung.

Manchmal sage ich mir selbst: Du musst doch wahnsinnig sein. Aber wenn ich von etwas überzeugt bin, ziehe ich das durch. Ich habe in Korea so viel Elend gesehen, so viel Schmerz und Trauer erlebt. Ich möchte diese negativen Erfahrungen in positive Energie umwandeln.

Gab es einen tieferen Beweggrund für sie, ein solches Projekt zu gründen?

Als ich 15 war, starb meine Großmutter. Ich war bei ihr aufgewachsen und liebte sie sehr. Ich habe sie zwei Monate lang beim Sterben begleitet, Tag und Nacht, ich konnte nicht mal mehr die Schule besuchen. Danach war ich ganz allein, völlig auf mich gestellt. Ich war arm und einsam, manchmal habe ich nur einmal am Tag gegessen. Ich schloss die Schule ab und begann, Kunst zu studieren, aber das wurde zu teuer. Meine Mutter, die mit einem Mitarbeiter der UN-Arbeitsorganisation verheiratet war, reiste in der ganzen Welt herum. 1972 meldete sie mich in einer deutschen Krankenschwesternschule an, im selben Jahr kam ich nach Bonn. Damals war ich 22. Das war für mich ein enormer Kulturschock.

Warum?

Schon wegen des Frühstücks: Brötchen und Marmelade statt Reise und Suppe – furchtbar! (lacht) Dann die viele nackte Haut im Sommer und die Knutscherei beim Karneval – solche Freiheiten genießen in Korea nur Frauen mit einem schlechten Ruf. Aber ich hatte solch einen Hunger nach Leben, ich habe eine Tanzschule besucht und den Karneval durchgefeiert.

Sie waren Buddhistin und sind hier Christin geworden?

Ja, ich habe mich taufen lassen und war sehr aktiv in der koreanischen Kirchengemeinde. Ich habe als Krankenschwester gearbeitet und mich in Witten zur Diakonisse weiterbilden lassen. Das war damals möglich, obwohl ich noch verheiratet war, mit einem Koreaner. Dann holte ich das deutsche Abitur nach und begann 1990 ein Theologiestudium in Bochum. Bis ich auf einem Fest in Berlin eine Koreanerin kennenlernte. Wir verliebten uns, ich ließ mich scheiden und zog 1992 zu ihr. Meine Examensarbeit an der Humboldt-Uni schrieb ich über „Die Stellung der Frau im Christentum, Konfuzianismus, Buddhismus und Schamanismus im heutigen Korea“.

Was war Ihr Fazit?

Alle Religionen behandeln die Frauen schlecht. Nur im Schamanismus spielt die Frau als Priesterin eine wichtige Rolle. Aber der Schamanismus wird im heutigen Korea nicht offiziell anerkannt, obwohl 80 Prozent aller Koreaner an Neujahr zu schamanischen Wahrsagerinnen gehen. Oder sie berufen Schamaninnen, wenn sie krank sind, damit diese die Geister austreiben. Konfuzius predigte die Hierarchie, den Gehorsam, die weibliche Unterordnung unter den Mann. Weil man nicht zeigen darf, was man fühlt, entwickeln die Menschen eine Doppelmoral.

Wie empfinden Sie das in Deutschland?

Ich erlebe die Deutschen als ehrlicher und kritischer. Aber von der christlichen Kirche hier bin ich auch enttäuscht. Aber was soll’s: Für mich und meine Hospizarbeit sind alle Religionen und auch die Nichtreligiösen gleichwertig. Das sage ich auch in meinen Kursen: Wir müssen das Leben der Sterbenden respektieren, wir sind nur ihre Begleiter.

INTERVIEW: UTE SCHEUB