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Archiv-Artikel

TANIA MARTINI LEUCHTEN DER MENSCHHEIT Kein Gott, kein König, kein Vaterland

In den Nachrichten sagen sie immer, dass die Märkte reagieren. Das ist Blödsinn. Man muss sich doch nur einmal die Angst eines Kindes vorstellen, das auf den Wochenmarkt geht und sich vorstellt, die Zitronen und Fische auf diesem Markt reagierten plötzlich. Oder ein Tisch stellte „sich allen andren Waren gegenüber auf den Kopf und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne“.

Dass der Tisch als Ware ein solches Gespenst sei, das glaubte auch Karl Marx, aber eben nur unter den Bedingungen, die den Nachrichtensprecher auch sagen lassen, die Märkte reagierten. Also unter den Bedingungen des kapitalistischen Markts, auf dem die Waren ein Eigenleben zu führen scheinen. Das ist kompliziert, aber auch ganz einfach, denn mit diesen ist es nicht anders als mit anderen Gespenstern: Es gibt sie nicht, und dennoch bestimmen sie unser Handeln.

Um all das für Kinder begreifbar zu machen, lassen der Philosoph Ronan de Calan und der Illustrator Donatien Mary in ihrem Buch „Das Gespenst des Karl Marx“ (Diaphanes 2014) eben jenen Karl Marx als liebenswürdig komplizenhaftes Gespenst auftreten, das die Kleinen mitnimmt auf eine Reise vom Früh- bis zum Spätkapitalismus – auf eine Suche nach dem Markt, in der Kinder ab dem Schulalter einiges über Lohn, Preis, Profit, Arbeitsteilung und so weiter erfahren. „Sie halten mich für tot, aber vor meinem Gespenst fürchten sie sich immer noch …“, sagt Karl Marx, kommt unter seinem Tuch hervor und erzählt die Geschichte von den schlesischen Bauern, die von ihrem Land vertrieben und in der Stadt zu Webern werden, die von der vorindustriellen Heim- und Manufakturarbeit in die Fabriken und in die Konkurrenz gezwungen werden. Das ist eine Geschichte voller Gewalt, an deren Übergängen immer die selbe Ausrede das Geschehen legitimiert: „Ich kann nichts dafür, das ist nun einmal das Gesetz des Marktes!“

Der Händler, der Vorarbeiter, der Fabrikbesitzer, alle sagen das, und als die Weber den Aufstand proben, weil sie „genug hatten von diesem unbekannten Markt“, der ihnen ihre Felder, Häuser, Arbeit und Körper geraubt hatte, da schickte der König die Soldaten los mit den Worten: „Sagt ihnen auch, dass es nicht nur der König ist, der das verlangt, sondern der Markt selbst!“

Das alles ist ganz wunderbar illustriert – minimalistisch, manchmal piktografisch, und nimmt der Klassenkampf in der Geschichte Schwung auf, fliegen dem Kapitalisten die Zahlen aus seinem Gesicht, während Karl Marx, der mit seiner Reisetasche an den Weihnachtsmann erinnert, ihm entgegenhält: „Hören Sie endlich auf, sich hinter diesem bösen Geist namens Markt zu verkriechen. Sie werden selbst einsehen, dass der Markt nirgendwo anders steckt als in dem ungerechten Vertrag, den Sie den Arbeiter unterschreiben lassen wollten.“

Im 18. und 19. Jahrhundert gab es zahlreiche Weberaufstände. Mit dem Aufstand von 1844 bekam die soziale Frage ein stärkeres gesellschaftspolitisches Gewicht. Über die politische Bewertung des Aufstands zerstritt sich Karl Marx mit Arnold Ruge, der dem Aufstand im Vorwärts eine größere politische Bedeutung absprach.

Wie gewaltvoll die Enteignungen die Weber traf, zeigt auch die Literatur jener Zeit – etwa Heinrich Heines „Weberlied“: „Deutschland wir weben dein Leichentuch / Wir weben hinein den dreifachen Fluch“. Der dreifache Fluch galt Gott, dem König und dem Vaterland – „Wo nur gedeihen Schmach und Schande“.

Die fast vergessene Louise Aston thematisierte 1846 in ihrem ebenso düsteren, todessehnsüchtigen „Lied einer schlesischen Weberin“ gar die Dimension der sexuellen Ausbeutung: „Der Fabrikant ist kommen / Sagt mir: ‚mein Herzenskind / Wohl weiß ich, wie die Deinen / In Noth und Kummer sind / Drum willst Du bei mir ruhen / Der Nächte drei und vier / Sieh’ dieses blanke Goldstück! / Sogleich gehört es Dir‘ “.

Das ist nicht Thema des kleinen Buchs, aber es lehrt mit schönen Bildern, dass der Markt nicht ein Zauberer ist, sondern der Ausdruck eines Produktionsverhältnisses. Oder wie man das auch erklären kann: Einer ist nur reich, weil ein anderer arm ist.

Die Autorin ist Redakteurin für das Politische Buch