: Welcher Junge küsst wie gut?
Flirts, Partys, Zwangsheirat: Jugendliche Außenseiter aus Berlin und Ungarn machen aus ihren Erfahrungen Theater und kommen ganz leichtfüßig auf gemeinsame Nenner
Familie? Druck! Nur drei oder vier Sätze lang sind die Spielszenen, in denen Mädchen und Jungen aus Berlin und Ungarn ein Szenario skizzieren, in dem der Konfliktstoff gewaltig ist. „Du musst heiraten“, sagt da eine Mutter zu ihrer Tochter, die, vielleicht grade mal zwölf Jahre alt, ängstlich auf dem Fußboden liegt. Der Vater habe das Geld für den Brauthandel doch schon genommen. „Du wirst enterbt, wenn du glaubst, mit diesem Luxusstudium weitermachen zu können“, droht eine andere Frau ihrer Tochter. Ein drittes Kind wird vom betrunkenen Vater zur Arbeit auf dem Bauernhof gezwungen. Kein Wunder, dass sie alle rauswollen aus diesen Machtverhältnissen.
Man würde gerne mehr über diese Geschichten erfahren im Stück „Nichts hält mich davon ab / Nem tarhat vissza semmi attól“, das die Jugendtheatergruppe der Schaubühne, die „Zwiefachen“, zusammen mit der Theatergruppe des Internats „Collegium Martineum“ aus Manfa in Ungarn entwickelt hat. Doch es bleibt bei den Andeutungen, und irgendwann versteht man auch, warum. Die gemeinsame Arbeitszeit in Berlin, nur wenig über eine Woche, war stets von Dolmetschern begleitet; auf der Bühne spielen die Jugendlichen, oft eine Rolle zu zweit, einmal in Deutsch und einmal in Ungarisch. Trotz der sprachlichen Grenzen etwas gemeinsam zu stemmen – das war der Schwerpunkt dieser Woche. Die Spielinhalte dagegen wurden über einen längeren Zeitraum an beiden Orten entwickelt.
„Wir haben uns zuerst Was-bin-ich-Tüten geschickt“, erzählt Alex Finger, ein langer Schlacks aus Berlin, „da waren Gerüche eingepackt, Kindheitserinnerungen, Bilder, Wünsche. Damit haben wir zur improvisieren angefangen.“ Wir, das sind in Berlin die „Zwiefachen“, mit denen die Theaterpädagogin Ute Plate seit acht Jahren mindestens ein Stück pro Spielzeit erarbeitet. Fast jeder in der Gruppe hat in seiner Biografie schon Brüche erfahren, Mobbing in der Schule, Bedrohung von Abschiebung oder Jugendstrafen. Wir, das sind in Manfa Schüler eines Internats, das für Kinder aus bildungsfernen Familien gegründet wurde und von vielen Roma-Kindern besucht wird. „Da hat jeder ein paar Kilo mehr zu tragen“, fasst Ute Plate das Gemeinsame beider Gruppen zusammen.
Aber es ist nicht dieses Mehr an Gewicht und bedrückender Erfahrung, was die Aufführung prägt. Im Gegenteil, sie wirkt seltsam leicht und unbekümmert. Mindestens ebenso viel Raum wie die Familienskizzen nehmen Geschichten über Haustiere ein. Den entschieden größten Raum aber haben Fragen wie: Welcher Junge küsst gut? Wie komm ich an ein Mädchen ran? Hält meine Clique zusammen? Kurzum, es ist ein Stück Normalität von Jungsein, das im Stück nicht nur gespielt wird, sondern über den langen Zeitraum der Erarbeitung auch hergestellt wurde – allen Unterschieden der Herkunft zum Trotz.
Alles steuert also im Stück auf die Party, das große Finale zu. Je näher Mädchen und Jungen sich kommen, desto poetischer und auch abstrakter werden die Sätze, die sie in zwei Sprachen miteinander tauschen. Tanzend bilden sie Paare, die aber, statt sich direkt zu berühren, mit ineinander geschachtelten Plastikbechern einen Abstand zwischen ihren Körpern sehr sichtbar markieren. Das ist ein schönes Bild für Annäherung und das gleichzeitige Sich-selbst-fremd-Werden in dieser ungewohnten Situation. Von solchen Übersetzungen der Gefühle in tanztheaterhafte Bilder lebt die Aufführung.
Es ist ein kunstvoll geordnetes Gewebe aus Gruppenbewegungen und Einzelaktionen, mit dem Ute Plate und ihre ungarischen Kollegen die sehr lose gestrickte Szenenfolge zusammenhalten. Man wünscht sich manchmal, dass sie mehr Unordnung und spontanes Leben auf der Bühne riskiert hätten. Aber man staunt bei der Probe zwei Tage vor der Premiere auch, wie viel Disziplin und Konzentration alle Beteiligten mitbringen. Sie haben sich ihre Party echt verdient. KATRIN BETTINA MÜLLER
„Nichts hält mich davon ab“: Studio der Schaubühne: 30. 6., 20. 30 h; 1. / 2. 7., 20 h