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Archiv-Artikel

„Berlin hat urbane Urwälder“

Wer sagt denn, dass die Großstadt ein naturfeindlicher Ort ist? Auf Grünanlagen und Brachen leistet sie in Wirklichkeit einen ganz eigenen Beitrag zur Naturgeschichte, weiß TU-Ökologe Ingo Kowarik

INGO KOWARIK ist seit 1999 Professor für Ökosystemkunde und Pflanzenökologie an der TU Berlin und seit 2001 Berliner Landesbeauftragter für Naturschutz und Landschaftsplanung.

taz: Herr Kowarik, Stadt und Natur – das scheint sich erst einmal zu widersprechen. Was bedeutet „Stadtnatur“?

Ingo Kowarik: Stadtnatur ist Natur, die sich innerhalb der Grenzen einer Stadt entwickelt oder erhalten hat – das kann auch am Straßenrand sein.

Und was ist das Besondere der Berliner Stadtnatur?

Die Vielfalt. Neben Wäldern, Seen und Mooren haben wir hervorragende Reste der landwirtschaftlich geprägten Kulturlandschaft. Naturentwicklung vollzieht sich aber auch in Grünanlagen und vor allem auf Brachflächen. Hier entsteht neue, urbane Natur. Das ist der Beitrag der Stadt zur Naturgeschichte.

Wo genau kann man das in Berlin erleben?

Fast überall – aber das Südgelände am Priesterweg ist ein Paradebeispiel für die Verschmelzung von Natur und Stadt. Aus einer lebensfeindlichen Bahnfläche ist ein extrem artenreicher Naturpark geworden. Hier gibt es urbane Urwälder neben einem naturnahen, blütenreichen Trockenrasen. Es gibt viele Wildbienenarten und sogar die Gottesanbeterin, die aus dem Mittelmeerraum stammt. Gleichzeitig verdeutlichen die Reste der Eisenbahnvergangenheit, wie die stillgelegten Loks, den naturbedrohenden Ausgangspunkt der Naturentwicklung.

„Urbane Urwälder“ – das klingt ja aufregend.

Die sind natürlich kleiner als am Amazonas. Es sind eher Urwaldinseln, die von einheimischen und nordamerikanischen Arten gebildet werden. Alte Bäume können zusammenbrechen, Lianen wachsen wild durcheinander. Da wurde nichts gepflanzt. Hier entstehen tatsächlich neue Waldtypen.

Gibt es so etwas auch in anderen Metropolen?

Im Vergleich mit Madrid, London oder New York ist Berlin grüne Spitze. Das fällt auch vielen Besuchern auf. Es sind nicht nur die Straßenbäume, nicht nur die Seen, es ist die große Vielfalt. Die Natur ist, wie die Stadt selbst, multikulturell. 50 Prozent der Innenstadtflora sind nichteinheimische Arten. Sie stammen aus allen Teilen der Welt.

Wie kommen die hierher?

Einige als blinde Passagiere. Pflanzen und Tiere werden jeden Tag vom Menschen unbemerkt transportiert, etwa durch den Güterverkehr. Aber auch gezielte Anpflanzung hat zu diesem Artenreichtum geführt. Nehmen Sie den Götterbaum, eine chinesische Art, die im 18. Jahrhundert nach Europa kam. Lenné, der berühmte Landschaftsarchitekt, nutzte ihn als Zierpflanze. Heute ist der Götterbaum die häufigste wildwachsende Baumart in der Innenstadt. Es gibt aber auch seltene einheimische Pflanzenarten wie den Sonnentau, eine fleischfressende Moorpflanze, die im Grunewald wächst.

Gibt es auch seltene Tierarten in der Stadt?

Zum Beispiel den Biber, der die Berliner Gewässer wiederentdeckt hat. Erstaunlich ist, dass 70 Prozent aller deutschen Brutvögel auch in Berlin nisten: Wanderfalken, Kraniche, Wachtelkönige. Für Vogelkundler sind das Attraktionen. Sogar Seeadler kann man mit etwas Glück über dem Tegeler See beobachten.

INTERVIEW: CATALIN GAGIU