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Archiv-Artikel

DIE GESELLSCHAFTSKRITIK Das Leben des anderen

WAS SAGT UNS DAS? Ein Künstler will 28 Tage lang den abgefilmten Alltag eines anderen erleben. Dazu setzt er sich eine Oculus-Rift-Brille auf und isst, was der andere aß. Selbst Klobesuche werden synchronisiert

Träumen Sie auch davon, zur Abwechslung mal jemand anders zu sein? Einfach wie in „Being John Malkovich“ in den Kopf eines anderen zu schlüpfen und die Welt durch dessen Augen zu sehen? Genau das will ein Mann in London ausprobieren: Im Londoner Kunstprojekt „Seeing I“ will Mark Farid durch eine Oculus-Rift-Brille 28 Tage lang das Leben eines anderen (er-)leben, das dieser zuvor genauso lange gefilmt hat. Helfer werden Farid während des Experiments mit dem Essen füttern, das der „andere“ isst, er wird duschen und aufs Klo gehen, wenn sein Film-Ich dies tut. Abgedrehte SciFi-Spielerei à la Startreks Holodeck?

„Ich will wissen, ob es möglich ist, das Gefühl für mein Selbst zu verlieren“, sagt Versuchskaninchen Mark Farid. Er und sein Team erhoffen sich von dem Experiment einen Einblick in die Tiefen menschlicher Existenz: Kann man die menschliche Identität durch ein anderes Leben und veränderte Gewohnheiten umformen? Eine vierwöchige Laufzeit wurde für das Experiment angesetzt, da man davon ausgeht, dass Gewohnheiten sich nach etwa drei Wochen verändern und herausbilden.

Kognitionswissenschaftler und Neuropsychologen haben das Experiment bereits als potenziell gefährlich für Farids psychische Gesundheit eingestuft. Wird er verrückt? Wird er nach vier Wochen „im Holodeck“ vielleicht für immer ein anderer sein? Um das Gröbste zu verhindern, soll ihm während des Experiments ein Psychologe zur Seite stehen.

Was dem Projekt noch fehlt, ist ein John Malkovich. Also jemand, der bereit ist, sein komplettes Leben vier Wochen lang nonstop zu filmen und dessen Realität zu Farids virtueller Realität werden lässt. Aber genau hierin liegt ein gewisses Risiko: Farid weiß nicht, was ihn erwartet. Abgesehen davon, dass er nur ein inszeniertes Leben zu sehen bekommen wird – jemand, der sein Leben filmt, verhält sich notwendigerweise anders als in unbeobachteten Momenten –, könnte das Projekt zur reinen Qual werden: Was, wenn der andere jeden Tag Grünkohl isst? Oder sich ständig üble Schmonzetten im Fernsehen ansieht? Willkommen in der banalen Realität des anderen. Da gibt es kein Entkommen. Zumindest so lange nicht, bis man die Oculus-Rift-Brille wieder absetzen darf. JULE HOFFMANN