Endstation Erster Weltkrieg

KUNST Von 1914 bis 1918 kamen in Europa 600 Künstler ums Leben. In Kiel wird ein Ausschnitt ihrer Werdegänge gezeigt

Es stockt einem der Atem, wenn man hört, was dem Maler Ernst Bischoff-Culm passierte: Im Sommer 1917 verliert er bei einem Handgranatenwurf beide Hände. Er nimmt sich das Leben

VON FRANK KEIL

Vom Maler Paul Adametz sind nur zwei Bilder erhalten geblieben, zwei Federzeichnungen. Die eine mit dem Titel „Obdachlose am Elbstrand“ stammt aus dem Jahr 1909 und zeigt Menschen, wie sie sich hinter einer Mauer, aber unter dem offenen Nachthimmel zum Schlafen hingelegt haben. Die andere ist undatiert: „Nach dem Kampf“ – ebenso eine nächtliche Szenerie, ein Blick in einen zerstörten Innenhof, übersät mit leblosen Körpern.

Adamatz wurde im Dezember 1914 zum Kriegsdienst eingezogen, nachdem er zuvor als begabter Jungkünstler von Hamburgs damaligem Leiter der Kunsthalle Alfred Lichtwark gefördert worden war. Als er Mitte 1915 in einem Feldlazarett in Weißrussland stirbt, ist er gerademal 23 Jahre alt. Normalerweise lagern seine Bilder im Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle.

Nun aber sind sie ein kleines Stück nordwärts gewandert und hängen in der Ausstellung „Sterne fallen – von Boccioni bis Schiele. Der Erste Weltkrieg als Ende europäischer Künstlerwege“, mit der die Kieler Kunsthalle einen Beitrag zur allgemeinen Rückschau auf das Kriegsjahr 1914 leistet. Gezeigt werden fast 200 Werke von 60 Künstlern aus 12 Ländern – die alle im Laufe des Weltkrieges ums Leben kamen.

Da sind die Namen, die man berühmt nennt, weil man sie kennt: Egon Schiele, gestorben an der Spanischen Grippe, die am Kriegsende in Europa wütete, weil in Folge des Krieges das Gesundheitssystem zusammengebrochen war. Da sind Werke von Franz Marc zu sehen, dessen Freistellung vom Kriegsdienst schon in die Wege geleitet worden war, hatte man ihn doch in die Liste der bedeutendsten Künstler Deutschlands aufgenommen, als ihn ein Geschoss traf. Und da ist August Macke, der sich Anfang August 1914 als Kriegsfreiwilliger meldet, um dann noch knapp sechs Wochen zu leben. Von ihm ist das Bild „Walter drei Tage alt“ zu sehen: ein frisch Geborenes, von einer Bettdecke wie einer weißen Wolke geschützt. Immer wieder gibt es diesen Clash: Man schaut auf stille Landschaften, auf Straßenszenen, auf zarte, leicht hingetuschte Akte und liest auf kleinen Bildtafeln, wann und wie der jeweilige Künstler ums Leben kam; oft genug nicht lange nach Kriegsausbruch oder kurz vor Kriegsende. Man könnte diese Ausstellung auch als ein sehr gelungenes Projekt würdigen, das zeigt, welche hauptsächlich malerischen, Strömungen zwischen den Zehner und den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts vorherrschend waren: von den Anfängen des Kubismus über den Fauvismus und Expressionismus bis zum Futurismus – hier in Kiel vorwiegend italienischer Prägung. Aber man weiß es ja, was alle hier vereint.

Es ist erst einmal eine spekulative Frage, wie sich die Kunstwelt in Gestalt des Wirkens einzelner Künstler entwickelt hätte, wenn es den Ersten Weltkrieg nicht gegeben hätte. Wer weiß schon, ob Paul Adamatz eine bis heute feste Größe in der Hamburger Kunstgeschichte geworden wäre, hätte er ein ordentliches, hohes Alter erreicht und bis zum 60sten, 70sten oder 80sten Lebensjahr gemalt. Wie soll man beurteilen, welches künstlerische Potential einst in dem jungen schwedischen Maler Ivan Lönnberg steckte, der zuletzt in Pariser Malerkreisen verkehrte und der sich bei der französischen Fremdenlegion meldete.

Doch die Frage nach einem möglichen kollektiven Verlust bekommt eine gewisse Erdung, wenn man den zur Ausstellung erschienenen Katalog zur Hand nimmt und an dessen Ende auf eine – gewiss nicht vollständige Liste – von bildenden Künstlern stößt, die von 1914 bis 1918 in Europa ums Leben kamen: Es sind gut 600 Namen und damit etwa 600 abgebrochene künstlerische Werdegänge. Die Kieler Ausstellung zeigt also nur einen kleinen Ausschnitt.

Es ist in gewissem Sinne eine Geisterausstellung, durch die man da geht. Alle sind sie ums Leben gekommen, die absolute Mehrheit sehr gewaltsam. Durch Bauchschüsse oder Kopfschüsse, überhaupt durch Beschuss. Andere starben an den Folgen ihrer Verletzungen, auch als der Krieg offiziell vorbei war. Der Atem stockt einem, wenn man vor den Bildern des Malers Ernst Bischoff-Culm steht und erfährt, was ihm widerfahren ist: Er gehörte zunächst zu den Nidden-Malern, die auf der heute zur Hälfte zu Litauen, zur Hälfte zu Russland gehörenden Kurischen Nehrung eine Künstlerkolonie gegründet hatten, die im Zweiten Weltkrieg unterging.

Mit 18 war er zum ersten Mal dort. In den nächsten Jahren und Jahrzehnten entstehen nun nicht unbedingt Formen sprengende Arbeiten, aber sehr gute Bilder, wie sein dezent expressives Bildnis „Mädchen mit Hunden“. Als der Maler im Sommer 1917 bei einem Handgranatenwurf beide Hände verliert, nimmt er sich das Leben. Am Leben zu bleiben, das hat dagegen Hanns Bolz versucht, Münchner Maler im Dunstkreis des Blauen Reiters und mit Max Ernst gut befreundet: Er verliert bei einem Gasangriff ein Auge, das zweite wird schwer geschädigt. Er versucht das Modellieren zu erlernen, sich ein neues, künstlerisches Feld zu erarbeiten. Er stirbt während eines Kuraufenthaltes an den schweren Verletzungen, die das Kampfgas in ihm hinterlassen hat und die nicht heilen wollten.

So schreitet man durch die Räume der Kunsthalle im ersten Stock, in der sonst Exponate der hauseigenen Sammlung zu sehen sind. Durch ein kleines Fenster kann man auf die Förde schauen – und auf den Kieler Hafen. Von hier aus sind damals die kaiserlichen Kriegsschiffe aufgebrochen, begleitet von Wünschen und Verfluchungen gegen die, die man Feinde nannte.

Die Ausstellung läuft bis zum 8. Februar 2015, Kunsthalle Kiel