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Archiv-Artikel

Die Stadt, das Schiff und das Wasser

AUSFLUGSZIEL Wallensteintage, Skizzenfest, Ozeaneum und ein Auftritt des Orchestre Miniature in the Park: Die Hansestadt Stralsund ist einen Besuch wert. Auch oder gerade dann, wenn das Mittelalter nicht tobt

VON RENÉ HAMANN

1. Die Stadt

In der Mitte dieser kleinen Hafenstadt, auf die von der Sonne ein mildes Licht geworfen wird, bevor der große Sturm kommt, werden Zelte aufgebaut. Auf dem Alten Markt, im Schatten des Rathauses und der wuchtigen Kirche, die sich St. Nikolai nennt. Es beginnen die „Wallensteintage“ in Stralsund, das sich dem Feldherrn einst erwehrt hat, um anschließend erst Schweden, dann Dänemark zu sein. Aus den Zelten und Ständen werden bald altes Zeug und neuer Plunder verkauft. Leute gehen in Klamotten aus dem Fundus eines Kostümfilms herum. „Mittelaltermarkt“ kann man dieses Ereignis auch nennen. Die Kulisse Stralsunds, dieser schrumpfenden, hanseatischen Stadt, dieser Kulisse aus Giebelhäusern und wuchtigen, sehr alten Kirchen, ist geeignet dafür. Mittelalter à gogo.

Stralsund hat rund 50.000 Einwohner, einen prächtigen Hafen, ein Weltkulturerbe, und diese Riesenbrücke nach Rügen im Hintergrund, aber es verschwindet immer mehr, und das nicht mal in Geschichte. Mittelalter hat es anderswo auch, Danzig etwa ist imposanter. Kulturell orientiert man sich mittlerweile eher nach Rostock, wo Hansa wieder zweitklassig spielt und die Band von Jennifer herkommt.

2. Das Schiff

Im Hafen liegen die Schiffe, vor den Schiffen stehen die Speicher. Ein kleiner Jahrmarkt ist aufgebaut, und neben der Spelunke „Zum Goldenen Anker“, Anlaufstelle für das in die Jahre geratene Alternativkulturpublikum, stehen Schwalben und Schopper, und eine Bühne steht hier auch. Männer mit Backenbärten und Ramones-T-Shirts, Frauen mit Piercing und Kind, irgendwie fühlt es sich komisch an, hier auf einem Balken (humorig für Bierbank) zu sitzen. Als die Irish-Folk-Kapelle mit sendungsbewusstem Sänger ihre Irish-Pub-Version von „Knockin’ On Heaven’s Door“ spielt, stehe ich auf und schlendere ein wenig herum. Auf dem weißen Stahlsegelschiff mit den übertünchten kyrillischen Buchstaben, einer Zweitausgabe der „Gorch Fock“, scheint irgendwas los zu sein.

An Bord hockt eine Horde Studenten mit Spielzeuginstrumenten, während ihr mutmaßlicher Dozent durch ein Mikrofon singt. Das Ganze ergibt einen bekannten sommerlichen Schlager. Ich kenne niemanden, aber alle sehen so unglaublich nach Berlin aus: nämlich karnevalesk individualisiert. Junge, bärtige Männer und kokette Post-Techno-Frauen. Lauter Kopien, denke ich, nur dieser Dozent, der kommt mir bekannt vor. Tatsächlich, es ist: Klaus Cornfield. Der hier mit seiner Riesenband OMP („Orchestre Miniature in the Park“, heute zu sechzehnt) ein Konzert gibt. Und sich als Gag ausgedacht hat, Coverversionen von Sommerhits zu spielen – während das Publikum sitzt und zeichnet.

Ich wende mich an einen Nachbarn: „Ist das ein Nichtraucherschiff?“ – „Ja, nein, im Moment vielleicht schon.“ – „Warum zeichnen hier alle?“ – „Das ist das Eröffnungskonzert vom Skizzenfestival.“ Skizzenfestival, aha – eine Art Klassentreffen von Kunststudenten, die sich hier einquartiert haben, um zehn Tage lang wettzuzeichnen. Da ist Cornfield natürlich die richtige Wahl für das Eröffnungskonzert. Der zeichnet auch, das Comic-hafte seiner Performance ist kaum zu übersehen. Die Version von „Letztes Jahr im Sommer“ ist tatsächlich gut. „Das nächste Lied handelt von einem Mann, der sich umbringen wollte und es nicht getan hat, weil die Sonne so cool scheinte.“

3. Das Wasser

Tag zwei, die Luft gleicht sich dem Meer an. Auch diese Stadt ist noch nicht gänzlich überdacht. Vor dem Ozeaneum stehen die Menschen Schlange, um im Trockenen Fische zu sehen, Fische, Langusten und Staatsquallen (das sind Quallen, die sich aneinanderhängen und somit ein Kollektiv bilden). Schon mal in einem Aquarium ohne Fische gewesen? Es sah so aus, auf den ersten Ebenen. Ob Fische eines natürlichen Todes sterben können? Man stellt sie sich immer nur als schwimmendes Essen vor, wenn nicht für uns, dann eben für die anderen, größeren Fische. „Hunger!“, ruft es laut aus irgendeinem Hohlraum. Wale hängen an Drahtseilen. Es sind künstliche Wale.

Man stelle sich vor, man werde als Fisch in einem Aquarium wiedergeboren, ob man dann herumschwimmt und das Gespräch mit den Mitfischen sucht: „Dieser nie enden wollende Strom an bewusstlosen Körpern während der Öffnungszeiten. Irgendwie kommt man da ganz schön ins Grübeln.“

Das Ozeaneum ist ein walbauchartiges Gebäude am Hafen, ein Touristenfänger, ein Eventmuseum mit freundlichem, aber ob der Schulklassenschwärme leicht überfordertem Personal. Es generiert einiges an Kohle. Schlecht ist es nicht, aber kein Vergleich zum Meeresaquarium in Barcelona.

Ich gehe Backfisch essen, während die Stadt zugeschüttet wird mit Regen. Schade um die nassen Skizzen, die nassen Lauten und Leiern, die nassen Touristen, schade um diese kleine, besuchenswerte Stadt.