Europa und seine Eintrittspreise

MIGRATION Maxi Obexer verwandelt Empörung in Literatur: das Debüt „Wenn gefährliche Hunde lachen“

Geld verdienen, studieren und als Journalistin zur Stimme ihrer Heimat Nigeria werden – das werden wohl kaum die Stationen sein, die Helen in Europa erwarten

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Gerüchte. „Es sind immer Gerüchte, womit wir es zu tun haben, wir leben von ihnen, wir haben nichts anderes als Erzählungen und Gerüchte!“ Ben sagt das zu Helen. Beide warten in Tanger auf die Möglichkeit wegzukommen, mit einem Boot, von Marokko nach Spanien, von Afrika nach Europa. Aber es fehlt nicht nur an Geld, um Schlepper, die Überfahrt und das Wegsehen der Grenzer zu bezahlen, es fehlt vor allem auch an Wissen, wem man trauen kann, was genau bevorsteht, wohin man kommen wird.

Lange hat Helen Ben getraut, er war ihr Führer durch die Sahara, er hat sie beschützt und bestärkt, wo Selbstaufgabe und Verdursten drohte. Doch jetzt verändert er sein Gesicht, aus der Freundschaft wird eine Geschäftsbeziehung. Helen findet sich plötzlich als seine Ware wieder, sein Eintrittspreis zu Europa. All die Schrecken, vor denen er sie bewahrt hat auf der langen Reise von Nigeria bis Tanger, waren die womöglich Teil einer Inszenierung, sie in diese Abhängigkeit zu treiben? Nicht die Hoffnung auf eine bessere Zukunft bricht in diesem Moment für Helen zusammen, sondern auch rückblickend kehrt sich um, was sie für wahr und wirklich hielt.

Die Autorin Maxi Obexer erzählt Helens Geschichte in ihrem ersten Roman „Wenn gefährliche Hunde lachen“. Sie erzählt sie mit der Stimme einer Frau, die immer an zu wenig Wissen leidet und die ihr Bild von der Welt ständig korrigieren muss.

Wenn die Erzählung anhebt, dann öffnet sich auch für den Leser zuerst nur ein ganz kleines Fenster, in dem er schemenhaft zwei Gestalten erkennt, die vor Hunden versteckt in einem Erdloch leben. Der Blick der Autorin bleibt immer in der Naheinstellung, nie geht er in die Totale. Und so teilt man als Leser bald mit Helen die Erfahrung, sich nur mühsam an die Wirklichkeit herantasten zu können, sich das Bild der Geschichte aus Szenen und Situationen, aus Dialogen und Briefen erst langsam herauszulesen.

Durch diese Form ist der Roman von Anfang an spannend – und beklemmend. Man ahnt, dass auf Schlimmes Schlimmeres folgt, man fürchtet die nächste Etappe des Weges. Der europäische Leser weiß, dass Helen in einem ganz anderen Europa ankommen wird als in dem ihrer Vorstellung. Geld verdienen, studieren und als Journalistin zur Stimme ihrer Heimat Nigeria werden – das werden wohl kaum ihre Stationen sein. Sondern ein furchtbares Warten auf die Anerkennung als Asylbewerberin. Durch dieses Warten muss man in den letzten Kapiteln hindurch, durch die Erfahrung, wie das Leben sich immer mehr zurückzieht, bis Helen sich selbst nicht mehr erkennt. Vielleicht würde man sich das als Leser gern ersparen, es ist ja vorhersehbar. Aber man kann dem nicht ausweichen. Helen zuliebe muss man bei ihr bleiben. Die Briefe lesen, die sie an Pat, ihre Schwester, schreibt. Vielleicht auch deshalb, weil man ahnt, dass selbst diese Briefe womöglich nur imaginär sind, ihren Adressaten nie erreichen. Es sei denn, wir machen uns zu ihrem Adressaten.

Man merkt an diesem Roman, dass Maxi Obexer, die aus Brixen/Italien stammt, Erfahrung mit Hörspielen und Theaterstücken hat. Man glaubt, die Stimmen beim Lesen zu hören, sieht sich selbst als Beobachter in eine fremde und bedrohliche Welt gestellt. Dass es keinen Erzähler gibt, der mehr weiß als die Figuren, macht aus diesem Stoff ein Stück so eindringliche Literatur.

Das hätte auch leicht schiefgehen können. Der Roman ist auch aus einem Anliegen hervorgegangen, aus der Empörung über den Umgang mit Menschen, die nach Europa wollen. Maxi Obexer hat sich deren Geschichten angehört, sie wollte sie erzählen, aber nicht wie in einem journalistischen Feature. Sie wollte etwas hörbar machen, gerade da, wo das Weghören zur europäischen Alltagsroutine gehört. Einigen Kapiteln ihres Romans merkt man diesen Druck an, besonders dort, wo es um das Leben in einem Asylbewerberheim in Deutschland geht.

Man ist dann aus einer Welt der Gerüchte, die so bedrohlich wie unbekannt schien, in eine Welt der Tatsachen gekommen, und jede von ihnen bedeutet: Einengung, Beschränkung, Barriere. Aber das, was Helen am Leben hält, bringt auch ihrer Geschichte das Leben zurück: dass sie sich selbst als eine andere imaginiert, in den Briefen an ihre Schwester Geschichten über Grace erfindet, die dort eine gute Wendung nehmen, wo Helen die eigenen Erfahrungen nicht mehr aushält. So liegt unter der erzählten Geschichte oft eine zweite, unausgesprochene und unaussprechbare.

Das macht die Sätze schmerzhaft und traurig. Aber das Weiterlesen wird deshalb auch so unausweichlich.

Maxi Obexer: „Wenn gefährliche Hunde lachen“. Folio, Wien 2011, 130 Seiten, 22,90 Euro