Übermalte Zeichen, verblassende Bilder

„Ein Produkt des freien Willens“ heißt eine Ausstellung im Neuen Berliner Kunstverein. Geht’s da um Kunst, um Werbung, den Markt und die Kraft von Slogans? Ja, richtig vermutet, aber auch um das Unendliche

Wer ist denn da gemeint? „Erobern Sie die Stadt“, fordert ein Plakat in großer Schrift auf. Ja sicher, man ahnt es schon, angesprochen sind die, die für ihre Signatur im Stadtbild viel bezahlen und hoffen, damit noch mehr einnehmen zu können, und nicht die, die mal so aus purer persönlicher Lust zur Eroberung des Stadtraums schreiten, mit Tags etwa oder Graffiti. Christine Würmell hat das kleine Plakat trotzdem über die leuchtenden Spuren von Farbbeutelattacken auf eine Wand im Neuen Berliner Kunstverein gehängt und mit weiteren Werbeslogans-Slogans und allerlei Verweisen auf 1-Euro-Jobber zu einer Installation über Kapitalismus, Markt und Kunst ausgebaut.

Da gibt es zum Beispiel eine quadratische, vom Putz befreite Fläche, die den Kunsthistoriker womöglich an minimalistische Skulpturbegriffe und Kritik am Warencharakter der Kunst erinnert und neben der einfache Arbeitszeit (1,20 Stunde) und der Mindestlohn dafür (7,50 Euro) notiert sind. So versucht Christine Würmell im Diskurs über das Luxus-System der Kunst den Diskurs über soziale Verortung, Artikulationshoheit und den Zugang zu ihr stets mitzudenken.

Würmells Arbeiten bieten reiche Ausbeute für die Jagd nach dem sozialen Gewissen der Kunst. Das beschäftigt zwar alle der drei Künstler, die Astrid Mania für ihre Ausstellung „Ein Produkt des freien Willens“ ausgewählt hat. Würmells Kritik an den Grenzen der Institution Kunst aber ist am einfachsten lesbar. Sie arbeitet sich direkt dort ab, wo hochbezahlte und ungewollte, verbotene Bildwelten aneinander stoßen. In dem Werkkomplex „Buffing“ nutzt sie dafür das Spiel mit der Ähnlichkeit: Fotografien zeigen einmal eine Farbfeldmalerei von Mark Rothko, Ikone einer hochspirituellen Kunst, und Arbeiter, die dabei sind, ein Graffiti zu übertünchen. Abgezeichnet sehen sich Rothkos Bild und die übermalte Wand zum Verwechseln ähnlich.

Den Witz in den Werken von David Hatcher und Michael Müller zu begreifen, macht schon wesentlich mehr Arbeit. Den kleinen, protzig gerahmten Grafiken „Classical Hits“ von David Hatcher sieht man nicht an, dass sie auf Diagramme zurückgehen, mit denen Philosophen, wie etwa Kant oder Wittgenstein, ihr Denken visualisieren wollten (wie man im Katalog lesen kann). Sie sehen einfach dekorativ aus, genauso wie die prächtigen Farbstrahlen, mit denen Hatcher einen Raum des Kunstvereins ausgemalt hat. Die farbigen Würfel darin erinnern an Lehrmaterial zur ästhetischen Früherziehung. Und tatsächlich setzt der Künstler sie in Performances als instrumentelle Lernhilfen ein.

„Ein Produkt des freien Willens“ ist die 13. Runde der Reihe Ortsbegehung, die der Neue Berliner Kunstverein 1995 gegründet hat, um regelmäßig Künstler der Stadt durch einen Kurator vorstellen zu lassen. Astrid Mania, die als Kritikerin unter anderem für artnet.de schreibt, setzt sich als Kuratorin besonders für Künstler ein, die auf die Geschichte der Philosophie und Naturwissenschaften rekurrieren. Dazu gehört Michael Müller, sicher die rätselhafteste Position unter den dreien im NBK.

In einer wunderbaren Zeichnung „Das Paradies des Herrn Cantor“ lässt er eine Form wie eine Milchstraße, zusammengesetzt aus unzählbar vielen Sternen, sehen, die an das mathematische Zeichen für Unendlichkeit erinnert. Und tatsächlich sind die Unendlichkeit und ihre Unvorstellbarkeit sein Thema. Teilweise, indem er das Erkennbare fast, aber doch nicht ganz zum Verschwinden bringt, wie in der kaum noch erkennbaren Porträtzeichnung jenes Mathematikers Georg Cantor, der zu den Theoretikern des Unendlichen gehörte. Cantors Beschäftigung mit den Zahlen hatte auch etwas Obsessives, und auch daran knüpft Michael Müller an, unter anderem mit Texten in Geheimsprachen. Wie aber das Nichtverstehbare dann doch in sehr ästhetisierten Formen auftritt, macht wiederum den Reiz seiner Werke aus. So stört das Komplizierte der Ausstellung nur am Anfang, bis man sich eingefädelt hat in die so unterschiedlichen Erzählweisen.

KATRIN BETTINA MÜLLER

Neuer Berliner Kunstverein, Chausseestr.128/129, Di.–Fr. 12–18 Uhr, Sa. + So. 14–18 Uhr, bis 19. August