Ein altes Paar sind sie nicht

IM KINO Der türkische Spielfilm „Our Grand Despair“ von Seyfi Teoman erforscht behutsam, wie sich eine Männerfreundschaft ändert

Cetin und Ender erleben ihr Verliebtsein in Nihal als Wandel ihrer Wahrnehmung

Es ist gar nicht so einfach, die Freundschaft von Cetin (Fatih Al) und Ender (Ilker Aksum) zu beschreiben: Zwei Junggesellen Ende 30, die sich mit einer gemeinsamen Wohnung eine Art Lebenstraum erfüllt haben und nun in trauter Innigkeit im Supermarkt einkaufen, um sich anschließend beim Kochen über das Rezept zu streiten. Eine solche Verbundenheit wird üblicherweise mit Begriffen wie „odd couple“ oder „altes Ehepaar“ etikettiert, aber Cetin und Ender sind weder das eine noch das andere. Als alte Schulfreunde kennen sie sich so lange, dass die Reibungspunkte ihrer Gegensätzlichkeit – Ender ist zurückhaltend und intellektuell, Cetin impulsiv und pragmatisch – sich längst abgeschliffen haben. Und so liebevoll sie auch miteinander umgehen, teilen sie doch kein Bett.

Wie auch immer man ihre Beziehung definiert, Cetin und Ender verfügen über ein gemütliches Zuhause. Man versteht also bestens, dass Fikret (Baki Davrak), ein gemeinsamer Freund, nach dem plötzlichen Unfalltod seiner beiden Eltern ihnen seine jüngere Schwester Nihal (Gunes Sayin) anvertrauen will. Er selbst muss nach Berlin zurück; Nihad soll in Ankara ihr Studium abschließen. Stumm und verschlossen vor Trauer zieht die junge Frau bei den Junggesellen ein. Cetin und Ender sind zuerst nervös ob der ungewohnten weiblichen Gegenwart und ängstlich darauf bedacht, alles richtig zu machen. Als Nihal sich unter der zurückhaltenden Fürsorge der beiden zu öffnen beginnt und langsam wieder aufblüht, bemerken die Männer zu ihrer eigenen Überraschung, dass das Mädchen bei ihnen nicht nur väterliche, sondern vor allem romantische Gefühle weckt. Gefühle, die sie mehr betrüben und beschweren, als dass sie sie genießen könnten.

Fast enervierend langsam entfaltet der Regisseur Seyfi Teoman diese Handlung, die keine ist, weil keine der Figuren wirklich agiert. Sicher, sie essen gemeinsam, sie plaudern beim Tee, machen Ausflüge und gehen sogar miteinander tanzen. Aber es passiert – nicht viel. Diese Ereignislosigkeit hat große Vorteile. Sie bietet die Möglichkeit, eine Fülle von Nuancen zu entdecken, für die ein handlungsorientierter Plot sich nie die Zeit nimmt. Cetin und Ender erleben ihr Verliebtsein in Nihal nicht als Beziehungsvorstufe, sondern als Wahrnehmungswandel. Sie selbst, ihre Freundschaft, ihr bisheriges und zukünftiges Leben, alles erscheint auf einmal in einem ungewohnten Licht. Was nicht unbedingt heißt, dass alles anders wird oder werden muss.

So ausführlich der Film mit dem Innenleben seiner beiden männlichen Hauptfiguren vertraut macht, lässt er dabei doch eine Seite völlig aus: ihre Sexualität. In einer Kinolandschaft, in der Sex stereotyp als Chiffre für Leidenschaft eingesetzt wird, tut diese Art von Diskretion einerseits gut, sie irritiert aber auch nachhaltig. BARBARA SCHWEIZERHOF

■ „Our Grand Despair“. Regie: Seyfi Teoman. Mit Ilker Aksum, Fatih Al, Günes Sayin, Baki Davrak u. a. Türkei/Deutschland/Niederlande 2011, 102 Min.