Akustische Kraftfelder

Kindesmissbrauch, Serienmorde oder in regelmäßigen Abständen wiederholte unanständige Ausdrücke: Die britische Band Whitehouse erstaunte zu Beginn der achtziger Jahre nicht nur mit ultrafiesen Synthesizerfrequenzen, sondern auch mit den Themen ihrer Texte. „Power Electronics“ nannte Whitehouse-Gründer William Bennett seine Musik, mit deren hohem Fiepen und untergründigem Brummen er seine Hörer in die Unterwürfigkeit zu zwingen trachtete. Für die Texte galt: je schockierender, desto besser.

Dass ein Ensemble für moderne Musik wie Zeitkratzer sich den Lärmgebilden von Whitehouse wiederholt angenommen hat, mag einerseits überraschen. Andererseits sind die Solisten um Reinhold Friedl stets bestrebt, die Musealisierung der Neuen Musik nach Leibeskräften zu verhindern. In diesem Fall mit rein akustischen Darbietungen von ursprünglich rein elektronischer Musik. Was schon mal eine gewisse Komik in sich birgt.

Von der Provokation der echten Whitehouse findet sich immer noch ein bisschen auf dem aktuellen „Whitehouse“-Album, der zweiten Zeitkratzer-Platte mit eigenen Versionen der Krach-Klassiker: William Bennett höchstpersönlich rezitiert im ersten Stück, „Daddo“, den Text, der in beunruhigender Form von Inzest spricht. Ansonsten sprechen bloß die Instrumente. Dass sich mit Blas- und Streichinstrumenten dabei nicht immer die gleichen extremen Resultate erzielen lassen wie mit Synthesizern, erklärt sich aus physikalischen Begrenzungen: Bestimmte Höhen und Tiefen sind für Zeitkratzer technisch nicht zu erreichen. Spannend und ziemlich schrill klingen ihre Lösungen auch so.

Weniger extrem, dafür akustisch nicht minder interessant ist das gemeinsame Album von Lawrence English und Werner Dafeldecker, auf dem das Duo Umweltgeräusche aus dem Wasser und der Luft so bearbeitet, dass sie als musikalisches Material ihre eigene Sprache entfalten. Der Field-Recordings-Experte English und der Improv-Musiker Dafeldecker bewegen sich zwischen Mikroklängen und handfesten Naturlauten, die sie mit Loops strukturieren und zum Teil zu dramatischen Gebilden aufschichten. Das Konkrete und das Abstrakte gehen bei ihnen so direkt ineinander über, dass man mit dem Wort „elektroakustisch“ eigentlich nur seine Hilflosigkeit zum Ausdruck bringen kann – oder die Einsicht, dass es egal ist, woher das Material nun stammt. TIM CASPAR BOEHME

■ Zeitkratzer: „Whitehouse“ (Zeitkratzer Records/Broken Silence)

■ Lawrence English & Werner Dafeldecker: „Shadow of the Monolith“ (Holotype)