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Archiv-Artikel

Den Talentpool der Wissenschaftlerinnen ausschöpfen

An den Hochschulen findet eine strukturelle Entmutigung von Frauen statt, hat der Wissenschaftsrat erkannt. Statt einzelne Frauen zu fördern, will er nun Hindernisse beseitigen

Vorschläge, wie die schlechten Chancen für Frauen in der deutschen Wissenschaft verbessert werden können, werden in Zukunft Chefsache sein. Am Montag stellte der Wissenschaftsrat seine „Empfehlungen zur Chancengleichheit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern“ vor. Und darin vollziehen die Hochschulrektoren und Präsidenten von Forschungseinrichtungen des Wissenschaftsrats eine klare Kehrtwende.

Wurden Frauen bisher als Wesen mit besonderen Defiziten betrachtet, denen man mit Frauenförderplänen begegnen wollte, so hat sich der Ton in den Empfehlungen massiv verändert. Es gebe einen „Pool an potenziellen Wissenschaftlerinnen, der jedoch nicht genutzt wurde“, stellt der Wissenschaftsrat fest und benennt damit, wo das Problem liegt: Nicht am Angebot mangelt es, sondern die Unis wissen dieses nicht zu nutzen. Der Rat argumentiert ökonomisch: „Will eine Gesellschaft heutzutage konkurrenzfähig bleiben, kann sie es sich nicht mehr leisten, ihren Talentpool nur zur Hälfte auszuschöpfen.“ Auch wissenschaftlich versprechen sich die AutorInnen Gewinn: „Solange Wissenschaft durch einen tradierten gender bias gekennzeichnet ist, leidet ihre Qualität.“

Vor allem die Statistiken hatten die SpitzenwissenschaftlerInnen zum Umdenken bewegt. Denn in Deutschland sitzen nur auf 15 Prozent der Lehrstühle Frauen, im europäischen Vergleich ist das einer der letzten Plätze. „Es war die berühmte Scherenentwicklung, die den Wissenschaftlern zu denken gegeben hat“, präzisiert Sigrid Metz-Göckel, Professorin für Hochschuldidaktik, die an der Entstehung der Empfehlungen beteiligt war. In der Medizin etwa studierten zu 75 Prozent Frauen, von denen viele exzellente Studentinnen seien. Nach der Promotion aber sinke der Frauenanteil kontinuierlich.

Die Mechanismen, die zum Verlust der Frauen auf dem Weg nach oben führen, sind mittlerweile bekannt. Es gebe einen „Prozess der Entmutigung“ von Frauen auf dem wissenschaftlichen Weg, so die Frauenbeauftragte der TU Berlin, Heidi Degethoff de Campos. „Nach der Promotion haben Frauen kaum mehr weibliche Vorbilder. Und es wird ihnen vermittelt, dass die Wissenschaft für sie vielleicht doch nicht das Richtige sei.“ Zu diesem Entmutigungsprozess gehört auch, dass die männlichen Lehrstuhlinhaber eher auch Männer fördern. Das hat nun auch der Wissenschaftsrat erkannt, der diese sogenannte homosoziale Kooptation als ernsthaftes Hindernis für Frauen erwähnt.

Um solche Hindernisse zu beseitigen, empfiehlt der Rat verschiedene Maßnahmen: Die Gutachter- und Bewerbungsverfahren etwa sollen anonymisiert werden. Denn eine Studie hat ergeben, dass wissenschaftliche Zeitschriften die Beiträge von Frauen doppelt so oft annehmen, wenn die Gutachter nicht wissen, ob ein Mann oder eine Frau den Beitrag eingereicht hat. Es sollen Anreize geschaffen werden, indem man etwa die Mittelvergabe an Frauenförderung bindet. Mentoringprogramme und die gezielte Ansprache von Frauen und schließlich auch die Flexibilisierung von Arbeitszeiten und eine bessere Kinderbetreuung sind weitere Ziele, die der Rat formuliert.

„Das ist ein echter Paradigmenwechsel“, meint Heidi Degethoff de Campos. „Bisher musste oft die Frauenbeauftragte um die Förderung jeder einzelnen Frau kämpfen. Jetzt will sich die ganze Organisation darum kümmern, dass Hindernisse für Frauen abgebaut werden.“ Allerdings haben sich nur wenige Institute auf Ziele verständigt, wie viele Frauen sie fördern wollen. Denn eine Quotenvorgabe empfiehlt der Wissenschaftsrat nicht – was die Bildungsgewerkschaft GEW scharf kritisiert: „Der Wissenschaftsrat hat die einmalige Chance verpasst, den aktuellen Generationswechsel in der Professorenschaft für eine wirksame Gleichstellung von Frauen und Männern zu nutzen“, so Anne Jenter, im GEW-Vorstand für Frauenpolitik zuständig. Interessanterweise waren vor allem einige Frauen im Wissenschaftsrat gegen eine Quote, berichtet Sigrid Metz-Göckel. „Sie befürchteten leider, Wissenschaftlerinnen würden als „Quotenfrauen“ abgewertet“.

HEIDE OESTREICH