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Archiv-Artikel

Herr Pauers hört auf

BEFÖRDERUNG Es sind auch seine Kinder. Seit Jahren fährt er sie durch den Taunus. Doch nun ist Schluss

Jule streichelt ihre Wange. Miguel erzählt von der Taucherbrille, die er in den Ferien bekommen hat. Ein Junge küsst einen Jungen

VON ANNABELLE SEUBERT (TEXT) UND BERND HARTUNG (FOTOS)

Herr Pauers erzählt. Eine Weile schon, er ist ins Reden geraten, so ist das mit Herrn Pauers, wenn er sitzt und wieder an was von früher denkt oder an was von vorhin. Er war ja wieder unterwegs. Jeden Morgen ist er unterwegs, so früh, dass im Taunus noch die Dunkelheit hängt und Nebel die Tannenspitzen verhüllt. Er nimmt dann seine Mütze, weil er ohne die nicht geht, ohne die fährt er nicht los, und steigt in seinen Bus. Mit dem Bus holt Reinhold Pauers Kinder aus den Dörfern ab, aus Neu- und Altweilnau, aus Mauloff und aus Finsternthal. Er bringt sie in den Kindergarten, zwölf Knirpse, die ein bisschen auch zu seinen geworden sind, die Frida, den Philipp, Lennox und Mo, Tessa, Marie, Tom, Jule, Miguel, Louis – den kleinen Louis –, Oliver und Finn.

Das ist alles. „Mehr gibt’s nicht“, sagt Reinhold Pauers, „net“, sagt er, das Hessische gehört zu ihm, er pflegt es – und Pauers hat Recht, eigentlich. Mehr gibt’s nicht.

Andererseits – das, vielleicht, kann man dagegenhalten – transportieren Busfahrer „die wertvollste Fracht der Welt“, wie er selbst sagt. „Jedenfalls fast immer“, relativiert er und legt die Daumen unter die Hosenträger. Er spannt sie, und der Bauch unterm karierten Hemd, der spannt auch leicht. Herr Pauers ist 68 und ins Sofa eingesunken, er liegt jetzt schräg darauf, wohl, damit er seine Evi, 64, besser sehen kann, die vor ihm im Sessel sitzt. „Der Herr gebe mir Gesundheit und die Arbeitskraft meiner Frau“, sagt er und wartet, bis sie nicht mehr lacht.

„Zwiebelchen, du g’fällst ma.“ So hat er sie angesprochen, da war seine Evi gerade 18. Anschließend hat er sie entführt, von Nordhessen nach Südhessen, um hier im Dorf, in Riedelbach, mit ihr ein Haus zu bauen und drei Söhne großzuziehen. „Sie hat die Steine geschleppt“, sagt Reinhold Pauers, „und ich hab gemauert.“

Jetzt schauen sie beide aus dem Fenster zum Beet, hinter dem keiner steht oder geht, an dem Wohnzimmertisch schauen sie vorbei, Plätzchen und ein Heimatroman darauf, „Die Bergerhof-Heidi“; und sie sagt: „Das wirst du merken. Das wird dir schon fehlen, die Ansprache der Kinder.“

Seit sechs Jahren packt Pauers Mädchen und Jungs in den Bus, den sie Spaghettibus nennen, weil er gelb ist und ein Fiat Ducato. Seit sechs Jahren also kümmert sich Reinhold Pauers, Montag bis Freitag schnallt er die Kleinen an, seine „Störche“ und „Erbsen“, seine „Wurzelkinder“. Er hat dafür gesorgt, dass die Kindersitze aus Styropor rausgerissen und ersetzt wurden – „das geht so nicht“, hat er gesagt, „wenn ich keine richtigen krieg, schraub ich sie ab und übergeb sie der Polizei“.

Er stellt Holztreppchen auf die Straße, damit beim Aussteigen niemand stolpert und sich die Stirn aufschlägt. Er hält Hände.

In seinem Leben ist Herr Pauers viel Bus gefahren, ganz früher für die Post, später für die Bahn. Er hat Skifahrer in Skigebiete und Senioren in Ausflugscafés geliefert. Er hat Stewardessen vom Frankfurter Flughafen abgeholt und auf umliegende Hotels verteilt. Aber seine „Waldmäuse“, die „Igelkinder“ – die sind was anderes. „Die Frida nimmt keinen Daumen mehr“, berichtet er seiner Evi, die im Sessel seinen Erzählungen lauscht, als stammten sie von einem Nachrichtensprecher. Und die Mo, sagt Pauers, „die schaltet man an und dann läuft die“. Wobei: Kaum dass sie mit ihren drei Jahren in seinem Bus sitzt, stopfe die Mo einen Finger in den Mund und einen in die Nase – „prompt schläft die ein“, sagt Pauers, und diesmal lacht er mit seiner Frau.

Und bis 19. Dezember kann es noch so weitergehen, dass er sagt: „Ich lass kein Kind alleine aussteigen.“ Und sie sagt: „Er lässt kein Kind alleine.“ Dass er sagt: „Die Eltern sind okay.“ Und sie sagt: „Wenn du sie dir gezogen hast.“ Dann jedoch, am 19. Dezember, muss Reinhold Pauers seinen Bus abgeben und zusehen, wie er verkauft wird. Weil die Zuschüsse nicht mehr reichen, ihn zu halten und es weniger Kinder gibt als vor einer Weile, wo er statt 36 Kilometer am Tag noch 75 zurücklegte.

Seine Evi hat Dankeskarten aus einer Schublade gezogen, „für den besten Spaghettibusfahrer“, liest sie vor. „Sie sind genau der richtige Mann am richtigen Ort.“ Karte um Karte legt sie vor ihn, aber Pauers sieht nicht richtig hin. Er will’s nicht. Er versteht’s nicht. „Tal der Hoffnungslosen“, sagt er.

Hoffentlich lese die Angela im Kanzleramt nun endlich, wie es dort unten zwischen den Villen um die Menschen bestellt sei. Wenn man sich nicht mal ihn mehr leisten könne! „Die An-schela“, sagt er und sieht seine Evi in der Küche verschwinden, sieht sie erst wiederkommen, als das Essen fertig ist; bis dahin trauern sie getrennt.

Schließlich sitzen sie bei Schnitzel, Braten und Kartoffelsalat mit Paprika, Herr Pauers isst seinen Braten am liebsten mit Fett und weiß wieder einiges zu erzählen, weil er an was von früher denkt. Vom Dieter, der mit ihm bei der Bahn war und 94 nach Kanada ausgewandert ist, zweimal fünf Wochen hat er ihn auf seiner Ranch besucht, 400.000 Quadratmeter Land, eine Blockhütte, wie man sie sich vorstellt. Sonst sei man wenig verreist. „Keine Zeit, kein Geld“, sagt sie. Na, sagt er, „zu Honeckers Zeiten“ hätten sie ab und an die Verwandtschaft in der DDR besucht. Einmal fuhren sie mit dem Auto und hatten „eine gebrauchte Spüle für Manfred auf dem Dach“. Mit Spiegeln schauten die Wärter unter den Wagen! Und Manfred hat sich über die Spüle wie ein Schneekönig gefreut. „Ich wollt’ ja nimma lebe!“, ruft Herr Pauers. „Hier hätte man gesagt: Was für’n Schrott.“

Zitronenpudding mag er nicht, also holt er noch das Buch, das ihn seit zwei Monaten nicht loslässt und das sich gut verkauft hat. Udo Ulfkottes „Kein Schwarz. Kein Rot. Kein Gold“ lässt Reinhold Pauers nicht los, und man wünscht sich sehr, dass ihm die Abrechnung mit Einwanderern als „Wohlstandsvernichter“ darin missfällt – so sehr wünscht man es sich, dass man dieses Buch gern übersehen hätte, als Pauers „Los, gehen wir die Erbsen holen“, sagt und seine Mütze nimmt, ohne die geht er nicht los, während draußen der Regen fällt.

„Juuuule“, hört man ihn kurz darauf singen, der Bus röhrt, schafft die Hügel nur schwer, die Scheibenwischer drücken schmale Pfützen beiseite. Jule streichelt ihre Wange, ein Junge küsst einen Jungen. Kind um Kind wird in den Bus gehoben. Miguel erzählt von der Taucherbrille, die er in den Herbstferien bekommen hat. Zungen schnalzen, Füße trommeln. „Herr Pauers, ich hab ganz schön viel gesehen!“ – „Was denn?“ – „Bowlingkugeln.“ – „Mach keine Dinger!“

Pinkfarbene Schuhe und Sterne auf den Mützen; Eltern, die schon von Weitem winken. Philipp, der Herrn Pauers regelmäßig Eier vom Hof mitbringt. „Bub, was machen die Hühner?“

„Ich hab einen Zopf“, sagt Tessa. Louis sagt: „Bin keine Erdmaus.“ Finn fragt manchmal: „Habt ihr mich vermisst?“ Mo hat einen Finger im Mund und einen in der Nase. „Du hast keine Augen im Kopf.“ – „Du hast keinen Mund.“

Lennox hat seine Sportschuhe vergessen und Finn vergisst fast den Rucksack, als er seiner Mutter in die Arme wankt. Maries Mutter haucht an eine Fensterscheibe und schreibt in Spiegelschrift „Marie“ hinein; und Frida sagt, sie kann alles sehen, als sie die Letzte im Bus ist, für die es gleich nach Hause geht: „Alles sehe ich“, sogar in den Blumen die Bienen. „Schnell, Herr Pauers“, ruft sie und wackelt mit den Beinen. „Müsse ma flott sein?“ – „Ja. Ja!“ Fridas Magen knurrt.