NEBENSACHEN AUS MOSKAU VON KLAUS-HELGE DONATHWAS NICHT IM REISEFÜHRER STEHT
: Erlebnisse in Pschu

VON KLAUS-HELGE DONATH

NEBENSACHEN AUS MOSKAU

Es sollte ein beschaulicher Ausflug werden. Über das Bergdorf Pschu kursieren viele Geschichten in Abchasien. Es ist ein mythischer und mystischer Ort, versteckt in einem Talkessel. Der Weg dorthin ist beschwerlich, nach einer Passhöhe sind es immer noch 35 Kilometer Fußmarsch durch dichte subtropische Vegetation. Ethnologen halten Pschu für die Geburtsstätte des abchasischen Ethnos.

Bis ins 19. Jahrhundert lebte hier ein kriegerischer Stamm, der sich partout den russischen Eroberern nicht unterwerfen wollte und mit der Vertreibung ins Osmanische Reich bezahlte. Danach kamen russische Siedler. Altgläubige, die von der offiziellen orthodoxen Kirche in Ruhe gelassen werden wollten. Sie sind so etwas wie Häretiker, Protestanten der Orthodoxie. Fromm, arbeitsam, abstinent und rechtschaffen. Einsiedler, politisch Verfolgte unter Stalin und so manch reumütiger schwere Junge zogen sich in die Höhlenwelt unterhalb der Viertausender zurück. Spuren des Glaubens sind noch gegenwärtig, die Abstinenz wurde mit den Jahren jedoch weniger.

Schon zum kräftigen Frühstück aus Zwiebeln und Bratkartoffeln gibt es ein Wasserglas selbstgebrannten „Tschatscha“, den kaukasischen Grappa. Vor dem einzigen Geschäft, das Tabak, Bier, Wodka, aber auch Schulutensilien vertreibt, steht am späten Vormittag eine schon recht angeheiterte Männergesellschaft. Fremde bleiben hier nicht lange unentdeckt.

Sascha lädt ein und führt das Wort, er ist Armenier und gibt sich als Handwerker aus, der die Hütte der Schwester renoviert. Auch die Einheimischen kennen ihn erst seit ein paar Gläsern. Die Geschichten überschlagen sich. Nicht zu Unrecht wird den Kaukasiern nachgesagt, talentierte Erzähler zu sein.

Manches entpuppt sich freilich später als Ammenmärchen. Dass man in Pschu mit Deutschen mehr Erfahrung hat als mit anderen Ausländern, trifft unterdessen zu. 1942 besetzten Einheiten der Division Edelweiß Pschu als einzigen Ort im Südkaukasus und bauten für die Eroberung des Öls am Kaspischen Meer ein Aerodrom, das noch in Betrieb ist. Nach zweieinhalb Wochen endete die Invasion. Eingefrorene Landserleichen sollen noch in Gletscherspalten liegen, erzählen die Bergbauern. Nebel und Regen verhindern jedoch den Aufstieg. Auch der NKWD-Spitzel und spätere SED-Funktionär Alfred Kurella zog sich in den 1940er Jahren in die Einsiedelei zurück. Nicht nur im Nebel ist Pschu ein unheimlicher Flecken.

Sascha ist der Nüchternste von allen. Sein Blick schweift rüber zu jungen Männern, die unter einer Buche vor dem Regen Schutz suchen. Auch sie sind Fremde und geben vor, ein paar Tage ausspannen zu wollen. Der Armenier wirkt nervös, er fühlt sich beobachtet. Seine Paranoia schien mir Folge des reichlichen Trinkens zu sein. Warum sollte jemand hier einen armenischen Handwerker verfolgen?

Am nächsten Tag finde ich Sascha zufällig auf einer Bank vor einem verlassenen Haus. Er hält sich den Bauch und muss aus der Reiseapotheke vernotarztet werden. Was mit ihm passiert ist, will der Geschichtenerzähler nicht preisgeben. Er warte auf einen Jeep, der ihn so schnell wie möglich wegschaffen solle, sagt er. Als das Fluchtfahrzeug eintrifft, wird er gesprächiger. Jemand hatte ihm eine Mistgabel in den – glücklicherweise umfänglicheren – Bauch gerammt. Denn Sascha ist kein Handwerker, sondern ein Geheimdienstler aus der Hauptstadt Suchumi, der mit dem Auftrag nach Pschu geschickt worden war, eine Geisel zu befreien. Die Geisel, die er befreite, konnte fliehen, die Entführer aber auch. Was nicht im Reiseführer steht: Seit einiger Zeit sollen Geiselnehmer das gottverlassene Nest für ihr Geschäft entdeckt haben.