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Archiv-Artikel

Verfassungswidrige Praxis der Kartellbehörden?

GERICHT Titisee-Neustadt legt Beschwerde ein: Stadt will selbst über Stromversorgung entscheiden

FREIBURG taz | Die Kartellbehörden wehren sich zunehmend gegen die Rekommunalisierung der Energieversorgung in Deutschland. Daher hat die Stadt Titisee-Neustadt jetzt Verfassungsbeschwerde eingereicht: Das grundgesetzlich garantierte Recht auf kommunale Selbstverwaltung werde ausgehebelt.

Der Fall hat für Kommunen in ganz Deutschland Bedeutung, denn es geht um die wichtige Frage, welche Entscheidungskompetenzen einer Gemeinde bei der Vergabe von Strom- und Gaskonzessionen zustehen. Sind Kommunen als Unternehmen zu betrachten, die ihre Wegerechte am Markt meistbietend verkaufen müssen? So sieht es das Kartellamt. Oder dürfen Kommunen die Konzessionen nach selbst definierten Kriterien vergeben, weil die Stromversorgung ein Stück Daseinsvorsorge ist? So sieht es unter anderen die Stadt Titisee-Neustadt.

Der Gemeinderat der Stadt im Hochschwarzwald hatte im Jahr 2011 entschieden, das Stromnetz künftig durch eigene Stadtwerke betreiben zu lassen, an denen auch eine Bürgergenossenschaft und die Elektrizitätswerke Schönau beteiligt sind. In dem Vergabeverfahren hatte die Kommune neben wirtschaftlichen Aspekten unter anderem auch eine ökologische Energieversorgung als Auswahlkriterium definiert. Dieses Gesamtpaket konnte oder wollte der bisherige Netzbetreiber jedoch nicht anbieten und schaltete daher nach seiner Niederlage das Kartellamt ein. Dieses wirft der Stadt nun eine unzulässige Vorfestlegung zugunsten des kommunalen Unternehmens vor. Mit einer Verfügung der Behörde ist jederzeit zu rechnen.

Der heikle Punkt dabei: Die Kartellbehörde kann ihren Beschluss auf kein demokratisch legitimiertes Gesetz stützen, sondern sich lediglich auf ein in den Jahren 2010 bis 2013 von Gerichten und Kartellbehörden herausgebildetes Gewohnheitsrecht berufen. Mit ihrer Praxis setzten die Behörden die nach Artikel 28 des Grundgesetzes verbrieften Rechte der Gemeinden – am Parlament vorbei – praktisch außer Kraft, beklagt Titisee-Neustadts Bürgermeister Armin Hinterseh.

Juristisch ist die Beschwerde ein Novum. Grundsätzlich ist eine kommunale Verfassungsbeschwerde nur gegen ein Gesetz möglich. Der mit dem Fall betraute Freiburger Rechtsanwalt Dominik Kupfer argumentiert nun, dass angesichts nur rudimentärer gesetzlicher Regelungen in diesem Fall auch das sogenannte Gewohnheits- und Richterrecht die Qualität von Rechtsnormen habe. BERNWARD JANZING