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Archiv-Artikel

Der Erzähler in der modernen Welt

GROSSSTADTROMAN David Simon ist der Mastermind hinter der längst kanonischen Fernsehserie „The Wire“. An seinem Monumentalwerk „Homicide“ kann man nun gut die Traditionen erkennen, in denen er steht

VON MICHAEL RUTSCHKY

Eine von Walter Benjamins kanonischen Schriften heißt „Der Erzähler“. Sie handelt von dem russischen Schriftsteller Nikolai Lesskow und erschien zuerst 1936. Benjamin entwirft den Erzähler als vormoderne Gestalt, die an einem mündlichen Austausch von Erfahrungen teilnimmt und an einem sozialen Netzwerk der Erzählungen mitwirkt, von dem sich der bürgerliche Roman, der das Individuum in seiner Einsamkeit als Helden wie als Leser konzipiert, kategorial unterscheidet.

Literaturhistoriker können erzählen, wieso Benjamin ausgerechnet auf Nikolai Lesskow zurückgriff, eine Art russischer Heimatdichter. Eigentlich hatte er die Rolle des Erzählers an einer ganz anderen Gestalt erläutern wollen: an Alfred Döblin und seinem Roman „Berlin Alexanderplatz“ (1929). Hier war die Einsamkeit des bürgerlichen Individuums mittels wahrhaft moderner Techniken aufgesprengt worden, nämlich durch ein raffiniertes Zitieren und Montieren von Material aus der modernen Großstadtwelt, die ja eine eigene Beredsamkeit dicht erfüllt (keine schweigenden Wälder und Täler). Aber Benjamin, erzählen die Literaturhistoriker, wollte doch den sowjetkommunistischen Schriftstellern und Ästhetikern nahe bleiben, und denen galt Alfred Döblin als dekadenter Formalist (Volkstümlichkeit war die Parole).

Döblin lernte von amerikanischen Vorbildern, insbesondere von John Dos Passos, dessen „Manhattan Transfer“ (1925) dem Großstadtroman diese neuen Stoffe und Techniken erschlossen hatte. Unmöglich zu behaupten, dass dieser Roman das Individuum in seiner Einsamkeit konstituiere; der Erzähler nahm direkt und innig teil an der Beredsamkeit der großen Stadt, an der gesellschaftlichen Konversation, am sozialen Netzwerk der ununterbrochen laufenden Erzählungen. Der Erzähler, wie ihn Benjamin beschreibt, ähnelt in der modernen Welt weit stärker dem Soziologen oder gar dem Zeitungsreporter als dem Dichter des alteuropäischen Verständnisses, der einer schweigenden Welt heroisch die Worte abkämpft. Über allen Wipfeln ist Ruh …

Keine Sorge, wir kommen gleich auf David Simon, aber dies ist eine verzweigte Geschichte. Vor mehr als 20 Jahren veröffentlichte der Berliner Soziologe Rolf Lindner eine einlässliche Studie über „Die Entdeckung der Stadtkultur“ durch die sog. Chicago School of Sociology, deren Protagonist, Robert Ezra Park, das Rumhängen des Lokalreporters in den diversen Szenen zur Grundregel des urbanen Sozialforschers erhoben hatte. Man spricht auch von teilnehmender Beobachtung. 1943 veröffentlichte William Foote Whyte mit „Street Corner Society“ ein Meisterwerk dieser Verfahrensweise: Er hatte sich in einen Bostoner Slum eingelebt und konnte aus dessen Inneren berichten, wie sich das Leben dort gestaltet – anders als der sumpfige Dschungel, den wertgläubige Prediger und Sozialarbeiter sich ausgedacht hatten und trockenlegen wollten, vielmehr als quasi totalitäre, überorganisierte und -kontrollierte Gemeinschaft. In Chicago kam dann für Benjamins Erzähler die Oral History hinzu, die der legendäre Studs Terkel in der Form von Radiosendungen und Tonbandprotokollen publizierte.

Es handelt sich also um eine starke und weitverzweigte Tradition, in der David Simons Monumentalwerk „Homicide“ steht, das jetzt auf Deutsch herauskommt. Ein Jahr lang – 1988 – betrieb er embedded journalism beim Morddezernat von Baltimore, der mit einer besonders hohen Verbrechensrate geschlagenen Hauptstadt Marylands. Der Hippie musste sich verkleiden, den Diamantstecker aus dem Ohr entfernen, konventionelle Sakkos, Schlipse, Hosen tragen, um unsichtbar zu werden unter den Detectives. So durfte er alle Klarnamen verwenden und die authentischen Fälle erzählen.

Das Buch ist eine Reportage – und ein echter Page-Turner, wie man das nennt. Der Leser folgt selbstvergessen der rasanten Erzählung und merkt kaum, wie er Seite um Seite umwendet, um auf dem Laufenden zu bleiben, das so geschwind abrollt …

Die Rasanz erzeugt weniger das konventionelle Ausmalen der Szene, wie Simon es immer wieder betreibt – „Pellegrini verzieht sein kantiges Gesicht zu einem kurzen Grinsen“, „Landsman lacht fies“ – als eine raffinierte Technik der Sequenzierung und des Schnitts. Die Reportage ist als Tagebuch erzählt. Der Leser steigt jeweils mit dem aktuellen Fall ein und verfolgt die Detektive bei ihrer Arbeit, wie sie ihn aufzuklären versuchen, Schritt für Schritt. Dabei entstehen übergreifende und sich kreuzende Spannungsbögen samt der entsprechenden Cliffhanger. Nein, ich verschweige, ob es Tom Pellegrini gelingt, den Mörder der kleinen Latonya Wallace zu entlarven …

In seine Chronik der laufenden Ereignisse, wie sie sich während seiner teilnehmenden Beobachtung bei der Arbeit des Morddezernats von Baltimore ergab, blendet David Simon immer wieder Reflexionen von erheblicher soziologischer Reichweite ein.

Der Außenseiter Henry Edgerton, ein schlanker und eleganter Herr, dessen Mutter eine bekannte Jazzpianistin in New York ist und der anhaltend seinen kulturellen Interessen nachgeht – während er gleichzeitig als Schwarzer in den entsprechenden Milieus über Kontakte und eine Streetcredibility verfügt, von der seine Kollegen irischer und italienischer Herkunft nur träumen können. Überhaupt bietet Baltimores Polizei und Political Class hochinteressantes Material für so etwas wie eine ethnische Archäologie. – Die Gleichmut, ja Freundlichkeit, mit der die Detectives die schlimmster Taten Verdächtigen auch dann noch behandeln, wenn sie überführt sind, als gäbe es so etwas wie professionelles Einverständnis zwischen Täter und Jäger. – Die verheerenden Folgen, die das Fernsehen bei den Mitgliedern der Jury zeitigt. Aus den Polizei- und Detektivserien meinen die Bürger, die in eine Jury berufen werden, genau zu wissen, wie handfeste Beweise für die Schuld eines Angeklagten ausschauen: Fingerabdrücke, der DNA-Abgleich, die Mordwaffe. Dass die Detectives als Zeugen vor Gericht oft nur eine verzwickte Hermeneutik der Spuren zu bieten haben, lässt deshalb die Jury immer wieder unüberzeugt, was zu Freisprüchen führt, die die Polizei als höhnische Verachtung ihrer Arbeit empfindet.

Immer wieder mal verfällt David Simon selbst in den zynisch-moralischen Jargon, den wir an den Romanen von Raymond Chandler und Dashiell Hammett, an den Private-Eye-Filmen mit Humphrey Bogart lieben und der sich der schlechten Unendlichkeit der Detektivarbeit, der anthropologischen Unmöglichkeit von Gerechtigkeit verdankt.

Das Fernsehen. Versteht sich, dass David Simons Monumentalreportage „Homicide“ zu einer Serie verarbeitet wurde, die aber, wenn ich’s richtig verstehe, in unseren Gegenden noch nicht anzuschauen war. Auf der Besetzungsliste findet der trainierte Zuschauer alte Bekannte wie Ned Beattie, Yaphet Kotto (der schon mal gegen James Bond antrat), Richard Belzer (aus einer der CSI-Serien vertraut). Es fällt auf, dass die Akteure nicht mehr die Klarnamen tragen – das wäre wohl eine allzu tiefe Einmischung ins Netz der Erzählungen von Baltimore gewesen.

Und dann schrieb David Simon (Jahrgang 1960) die in unseren Kreisen so hoch geschätzte Serie „The Wire“, deren Schauplatz ja gleichfalls Baltimore ist. Ich kenne nur zwei Staffeln und kann von daher sagen, dass das Buch „Homicide“, wenn ich richtig sehe, kein direktes Material für „The Wire“ geliefert hat: Diese Geschichten sind autonom. Allerdings taucht einer der Detectives von dort hier wieder auf, Jay Landsman, fies lachend, von der ethnischen Archäologie als Jude identifiziert, ein ordinärer Fettsack von erheblichem polizeilichem Geschick. Der Schauspieler heißt Delaney Williams, wenn Sie das interessiert.

Damit sind wir längst innerhalb des Netzes, das laut Walter Benjamin die Erzählungen zusammenhängend zu bilden pflegen. Kein Zweifel, dass David Simon einer dieser Erzähler ist, die es wirken. Was sich schon daran zeigt, dass er im Grunde nur nach- und weitererzählt, was dann das Fernsehen fortsetzt.

David Simon: „Homicide“. Kunstmann, München 2011, 830 Seiten, 24,90 Euro