: Leben im Trangeruch down under
Nur im Spiel ist der Mensch ganz Australier: großartige Geschichte von Tim Winton
VON FRANK SCHÄFER
Mit Tim Winton ist ein großer Erzähler zu entdecken, der hierzulande schon längst seinem Können gemäß gefeiert würde, stammte er nicht aus Australien, dieser archetypischen Provinz. Nach dem wunderbaren Roman „Der singende Baum“ gibt uns Luchterhand jetzt eine weitere Chance mit Wintons Erzählband „Weite Welt“. Winton springt zwischen den Zeiten, den Schauplätzen, Protagonisten und nicht zuletzt den Erzählperspektiven hin und her und vernetzt diese heterogenen Wirklichkeitsausschnitte so planvoll, dass sich daraus sukzessive eine eigene Romanwelt materialisiert, nämlich das kleine, langweilige, durch und durch verrottete Hafenstädtchen Angelus. Eindrucksvoll demonstriert Winton dabei seine kompositorischen Qualitäten.
Eine nur kurz erwähnte Nebenfigur wie Jackie, das lose Ding, zum Beispiel taucht viel später noch einmal auf und darf jetzt ihre Geschichte erzählen. Man erfährt nun, dass ihr legendär schlechter Ruf auf nichts anderem beruht als der juvenilen Fantasie der Mitschüler – und Jackies Langeweile. Auf sehr keusche Weise lässt sie sich mit dem lokalen Dropout und Bombenleger Boner McPharlin ein und wird so zum imaginativen Freiwild des Ortes. McPharlin indes ist eine der Schlüsselfiguren in dem Haupterzählstrang um den „Verteidiger“ Victor Lang. Dessen Vater Bob wird als Polizist nach Angelus versetzt und versucht einem Drogenschmugglerring auf die Spur zu kommen, an dem die eigenen Kollegen beteiligt sind. Boner McPharlin ist der offenbar mit Drogen ruhiggestellte Handlanger, der beinahe ausgepackt hätte, aber vorher von den korrupten Polizisten des Ortes brutal zur Räson gebracht wird. Man bricht ihm beide Beine. Bob Lang wird ebenfalls unter Druck gesetzt, die Familie ausgegrenzt und terrorisiert, schließlich fängt er an zu trinken und verlässt Frau und Kinder. Sein Sohn Vic spürt die Bedrohung und den lauernden Argwohn, und die ständige Ausnahmesituation konditioniert ihn auf fast pathologische Weise.
Diese plane Nacherzählung des zentralen Plots ist eigentlich schon eine Interpretation, jedenfalls eine unzulässige Reduktion des Buches. Der Leser muss sich wie in einem Detektivroman die passenden Informationen aus den einzelnen Erzählungen zusammensuchen und das alles selbst kombinieren. Daraus resultiert ein nicht geringer Teil des ästhetischen Vergnügens an diesem Episodenroman. Alles hängt hier mit allem zusammen, und wenn nicht auf der reinen Plotebene, dann zumindest in der ästhetischen Tiefenstruktur. In mehreren Geschichten, beinahe wie in einer Fallstudienreihe, führt Winton etwa die deformierte Familie vor. Meistens spielt Drogensucht oder Alkoholismus eine ursächliche Rolle, und was sich die Menschen in Angelus gegenseitig antun, das gibt der häufig beschworenen Sehnsucht nach dem Aufbruch in die „Weite Welt“ eine gewisse Dringlichkeit, aber die Protagonisten werden den Trangeruch der ehemaligen Walfängerstadt Angelus einfach nicht los.
„Vielleicht bewegt die Zeit sich durch uns und nicht wir uns durch sie“, fragt sich der Ich-Erzähler in der großartigen „Aquifer“-Story, um dann zu dem Schluss zu kommen, „dass die Vergangenheit in uns ist und nicht hinter uns. Geschehenes ist nie vorbei.“ Angesichts der prekären Vergangenheit Australiens als ehemaliger Sträflingskolonie ein ziemlich defätistisches Geschichtsbild. Dass dem Erzähler die eigene Desillusioniertheit ausgerechnet dann bewusst wird, als er nach Jahrzehnten die Straße seiner Kindheit besucht und mit ansieht, wie die schon damals ausgegrenzte Aborigines-Familie Jones unter den feindseligen Blicken der weißen Nachbarn aus ihrem Haus vertrieben wird, verleiht dieser trüben geschichtsphilosophischen Spekulation noch eine perfide politische Dimension.
Aber es gibt so etwas wie Erlösung. Im Spiel. Vic sublimiert seine ankonditionierte, latent gewalttätige Verteidiger-Attitüde im Tontaubenschießen und kompensiert sie auf diese Weise. Und vorher schon erinnert sich Vic an die Basketballspiele seiner Jugend. Er und seine Freunde werden von den Aborigines regelmäßig vernichtend geschlagen, aber anschließend begleiten sie die Sieger ausgelassen in ihre Viertel zurück, weil die Eingeborenen Angst vor der einsetzenden Dunkelheit haben. Ein Akt der Verbrüderung.
Eine andere Figur, Leaper, das scheiternde Baseball-Ass, muss einsehen, dass sein Versagen in dem Moment begonnen hat, in dem er sich an seine bedrückende Kindheit erinnert und er es seinem Bruder zeigen will – als das Spiel also kein bloßer Spaß mehr ist, sondern plötzlich einen Zweck bekommt. Nur im selbstvergessenen Spiel lässt sich die Last der eigenen und sogar der kollektiven Geschichte für Momente abschütteln. Spiel ist natürlich Chiffre für das ästhetische Spiel. Winton variiert hier Positionen der klassischen Ästhetik, die Schiller etwa in seinen „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen“ formuliert hat. Und wie dieser hegt er offenbar die Hoffnung, dass sittliche Vervollkommnung, eine Befreiung des Menschen möglich ist, wenn man sich nur oft genug diesen verspielten, ästhetischen Momenten aussetzt. Hoffentlich stimmt das. „Weite Welt“ sollte man dann aber auf jeden Fall zu Rate ziehen.
Tim Winton: „Weite Welt“. Aus dem Englischen von Klaus Berr. Luchterhand, München 2007, 349 Seiten, 19,95 Euro