: Von wegen Revolution frisst Kinder
MAUERFALL Erinnern hat nicht nur mit Vergangenheit zu tun, sondern auch mit Gegenwart und Zukunft. Dem trägt das digitale Projekt „Die Revolution und ihre Kinder“ Rechnung
VON ANNE-SOPHIE BALZER
Die Frage bleibt hängen, brachial und angriffslustig: „Wo ist die Mauer heute, an der ich mir den Kopf blutig rennen kann?“ Ausgesprochen wird sie von einer jungen Frau mit bewegter Familiengeschichte: Lena Braschs Großvater war stellvertretender Kulturstaatssekretär der DDR, ihr Onkel ein wenig gewürdigter Schriftsteller, und ihre Mutter ist Autorin und arbeitet beim Radio. Lena und Marion Brasch sind zwei von zehn ProtagonistInnen des Projekts „Die Revolution und ihre Kinder“, das die Geschichten von fünf Familien erzählt, die von der Mauer und dem Mauerfall vor 25 Jahren geprägt wurden und sind.
Lena hat sich den Satz mit der Mauer und dem blutigen Kopf von ihrem Onkel Thomas Brasch geborgt, der nach seiner Ausweisung aus der DDR über die „Gummiwände“ in der BRD verzweifelte. Schwer scheinen diese Geschichtsschreiber in der eigenen Familie aber nicht auf ihren Schultern zu wiegen. Lena Brasch ist 21 Jahre alt und holt die Mauer-Gummi-Problematik in die Gegenwart.
Schlenker und Kurven
Um den Geschichten der Revolutionäre und ihrer Kinder einen möglichst zeitgemäßen Anstrich zu verpassen, haben sich die Produzenten der Kooperative Berlin für eine moderne Form entschieden: eine Longform. Das ist eine Internetseite mit Text und Film. Die Geschichten der ProtagonistInnen werden zum einen in einem fortlaufenden Essay erzählt, das einige Schlenker und Kurven macht, zum anderen kommen die ProtagonistInnen selbst in Videoausschnitten zu Wort oder lassen Dokumente wie Musik und Bücher sprechen, die für sie von Bedeutung sind.
Gedreht wurde an besonderen Orten wie dem alten Rundfunkgebäude am Berliner Baumschulenweg oder zu Hause bei den Familien. Dokumentaufnahmen alter Stasiakten wechseln sich mit Fotografien aus dem Familienalbum und Landschaftsaufnahmen historischer Orte ab.
Weil Erinnern aber nicht nur mit Vergangenheit, sondern auch ziemlich viel mit Gegenwart und Zukunft zu tun hat, wurden nicht nur die Geschichtschronisten eingeladen und porträtiert, sondern auch deren Kinder. Weil die jetzt etwa so alt sind wie ihre Eltern, als im November 89 die Mauer fiel. Weil auch deren Leben mit geprägt ist von den Ereignissen vor und nach dem Ende der DDR, weil die SED-Diktatur ein Teil der Familiengeschichte ist und weil auch sie sich Gedanken über ihre eigenen großen und kleinen Revolutionen machen.
Der Mauerfall mag historisch ausgeleuchtet sein, bis in die letzte Sackgasse im Tal der Ahnungslosen. „Die Revolution und ihre Kinder“ hat jedoch ein anderes Anliegen. „Uns interessieren weniger die gut dokumentierten Ereignisse um 89, sondern welche Narrative in jenen Familien entstanden sind, die die Ereignisse mitgestaltet haben“, erzählt Patrick Stegemann, leitender Redakteur des Projekts. „Deren Lebensgeschichten sind ja einerseits Teil der deutsch-deutschen Geschichte, aber gleichzeitig auch Familienfolklore.“
Wer sich Zeit nimmt und auf den hinteren Seiten stöbert, findet alte Tonbandaufnahmen von einem Song, den der SPD-Politiker Michael Stieber aufgenommen hat, kurz bevor er die DDR verließ: „Geht’s jetzt los, das Gerenne / So viele, die ich kenne, jetzt verziehen sie sich.“ Wir sehen, wie Marion Brasch aus ihrem autobiografischen Roman „Ab jetzt ist Ruhe“ liest oder wie ihre Tochter Lena ein Gedicht ihres Onkels vorträgt.
Während die Generation der Kinder zur Wendezeit entweder noch sehr klein oder noch nicht geboren war, besetzten ihre Mütter und Väter Stasizentralen, führten Demonstrationszüge in Leipzig an oder flüchteten aus der DDR. Für deren Kinder sind diese Geschichten Teil der Familienhistorie.
Heldensagen werden aber in keiner der Familien gesponnen, denn als Held empfindet sich niemand. Tely Büchner, die mit vier anderen Frauen und hochschwanger in die Erfurter Stasizentrale eindrang, als sie hörte, dass dort Akten verbrannt würden, sagt auf der Premiere des Projekts im Haus der Stiftung für Aufarbeitung: „Das Wort ‚Held‘ oder ‚Revolutionär‘ findet in meinem Wortschatz nicht statt. Es war Wahnsinn, was wir damals geschafft haben, aber wir haben das eben nicht allein geschafft, das waren viele.“
Auch wenn sie sich selbst nicht als Heldin sieht, ihr Sohn Jakob bewundert seine Mutter für ihren Mut. Und für ihn tut sich ein ganz ähnliches Problemfeld auf wie für Lena Brasch: die fehlenden klaren Feindbilder. „Die Welt ist diffus und sehr ausdifferenziert, da ist es schwerer, gegen etwas zu kämpfen.“
Da ist sie nun, die vermeintlich desinteressierte, apolitische Generation, die sich mehr für das neue iPhone interessieren soll als für europäische Flüchtlingspolitik. Patrick Stegemann glaubt, dass seine Generation der 20- bis 30-Jährigen eher apolitisch gemacht wird, als dass sie es wirklich ist.