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Archiv-Artikel

Über Lampedusa hinaus

TANZTHEATER Vielfalt und Aktualität: Das Festival „Tanztheater International“ richtet den Blick dieses Jahr nach Afrika. Und fragt, wie wir auf diesen riesigen Kontinent blicken

Inhaltlich wendet sich Tanztheater International Richtung Süden: Nach Afrika

VON MAX WALLENHORST

„Ich weiß nicht / wieso ich euch so hasse / Tanztheater dieser Stadt“, sang einst der junge Dirk von Lowtzow zu Klapperschlagzeug und Grunge-Gitarren seiner Band Tocotronic. Bei ihm waren die Tanztheater Freiburgs gemeint. In Hannover ist lange nicht in Aussicht, dass langhaarige Jugendliche gegen die Übermacht von Tanztheater ansingen müssen, doch ein unbeugsames Festival versorgt hier nicht nur die Landeshaupstadt, sondern die ganze deutsche Szene jedes Jahr mit neuem internationalen „Bewegungsmaterial“.

Seit 1985 – und damit im Vergleich zu ähnlichen Veranstaltungen sehr lange – gibt es das internationale Tanztheaterfestival in Hannover, wenn auch unter wechselnden Namen. Christiane Winter war von Anfang an mit dabei, seit Ende der Achtzigerjahre liegen Festival- und künstlerische Leitung bei ihr. Man habe damals der „Aufbruchsstimmung“ allgemein in der Tanz-Szene, wie Winter sagt, eine Bühne geben wollen. Und noch immer vermeidet das Festival Genre-Grenzen, versucht eher diese einzureißen: „Wir bemühen uns um unterschiedliche Ausdrucksformen unter dem großen Begriff Zeitgenössischer Tanz. Das reicht vom puren Tanz bis sogar zu performativer Kunst.“

Neben der Vielfalt legt Tanztheater International auch großen Wert auf Aktualität. Christiane Winter will den Zuschauern immer auch neue Tendenzen des Tanzes zeigen. Das erreicht sie unter anderem mit dem Mut, auch junge Künstlerinnen und Künstler nach Hannover einzuladen, wie in diesem Jahr zum Beispiel die Choreographin und Tänzerin Lisbeth Gruwez. Die Produktion, die in Hannover zu sehen sein wird, ist erst ihre dritte. Fragt man Christiane Winter, ist in Gruwez’ Auftritt mit Schlagzeuger und Gitarrist auch eine der besonderen Strömungen in diesem Jahr zu erkennen: Live-Musik kommt nach zehn Jahren wieder mehr zum Einsatz. Die Musiker seien dabei aber nicht nur akustische Untermaler, erklärt Winter, sie brächten auch ihr Bewegungsmaterial in die Perfomance ein und würden so fast selbst zu Darstellenden. So verschwimmen die herkömmlichen Vorstellungen von Begleitung und Hauptdarstellern.

Inhaltlich wendet sich Tanztheater International in diesem Jahr Richtung Süden: „Über Lampedusa hinaus. Nach Afrika. Wie sehen wir auf diesen riesigen Kontinent?“, fragt das Programmheft. Und Winter erläutert: „Wenn man an afrikanischen Tanz denkt, denkt man als Europäer fast immer an folkloristische Ansätze. Wir versuchen, zu zeigen, dass dort natürlich auch ganz eigene Entwicklungen im zeitgenössischen Tanz stattgefunden haben.“ Anregen, Klischees zu überdenken, will zum Beispiel das Stück „Black Spring“, in dem „typisch“ afrikanischer Tanz von westlicher Musik begleitet wird – einer der Tänzer fragt: „Do you want to see African Dance?“

Coupé Décaler – das ist wiederum das Schlagwort, unter dem die jungen Ivorer in den Vororten Paris’ der Armut trotzen. Arm sein – und trotzdem teuer aussehen, teuer leben, teuer tanzen. Das ist ihr Plan und Thema der Produktion „Betrügen“ der Regisseurin Monika Gintersdorfer und des Künstlers Knut Klaßen. In ihrer Gegenüberstellung von schwarzafrikanischen und europäischen Tänzern werden auch zwei verschiedene Traditionen von Tanz deutlich. Während viele Europäer sich auf Form und Darstellung konzentrieren, zitiert Winter einen afrikanischen Tänzer aus „Betrügen“: „Wir nehmen Themen auf und vertanzen sie.“

Eröffnet wird Tanztheater International aber heute Abend von „Sideways Rain“ aus der Schweiz um 20 Uhr in der Orangerie Herrenhausen. In der neuesten Choreographie des Brasilianers Guilermo Botelho kriechen, gehen, fallen und rennen zwölf Tänzer „mit trancehafter Zwangsläufigkeit“ von einer Seite der Bühne zur anderen. „So mag die Menschwerdung begonnen haben“, mutmaßt das Programmheft. Und übrigens wird inzwischen auch in den Musikvideos der Band Tocotronic gerne zeitgenössisch getanzt.

■ Hannover: Do, 1. 9. bis Sa, 10. 9., in Ballhof Eins, Ballhofplatz 5, Ballhof Zwei, Knochenhauerstraße 28, Orangerie Herrenhausen, Herrenhäuser Straße 3 und Schauspielhaus Hannover, Prinzenstraße 9; Infos und Programm: www.tanztheater-international.de