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Archiv-Artikel

Fetisch Schießbefehl KOMMENTAR VON RALPH BOLLMANN

Die Magdeburger Außenstelle der Stasiunterlagenbehörde hat ein Dokument präsentiert, in dem Spezialkräfte der Stasi dazu aufgefordert wurden, fahnenflüchtige Grenzsoldaten notfalls zu töten – im Zweifelsfall auch mitsamt ihrer ganzen Familie. Eine vergleichbare Anweisung wurde schon 1997 in einem wissenschaftlichen Sammelband veröffentlicht, ohne größeres Aufsehen zu erregen. Der Begriff „Schießbefehl“ löst jetzt zwar Emotionen aus; um jenen lange gesuchten allgemeinen Schießbefehl, der zum Töten flüchtiger Zivilisten auffordert, handelt es sich bei dem nun vorgelegten Dokument aber gerade nicht.

Bleibt die Frage, warum die Existenz oder Nichtexistenz ebendieses „Schießbefehls“ die Gemüter noch immer so bewegt. Darin zeigt sich eine erstaunliche Parallele zu der jahrzehntelangen, ebenso vergeblichen Suche nach einem „Führerbefehl“ für die Ermordung der europäischen Juden. So unvergleichbar die Tatbestände sind: In beiden Fällen macht sich eine Öffentlichkeit, auf die Fahndung nach einem solchen zentralen Befehl fixiert, allzu naive Vorstellungen von Entscheidungsprozessen und Befehlsketten. Das Beunruhigende an solchen Apparaten wie dem DDR-Grenzregime ist ja gerade das perfide Zusammenspiel von Gruppendruck und vorauseilendem Gehorsam, Belohnung und Bestrafung, das sich mit einer einzigen knappen Anweisung – selbst wenn es sie denn gäbe – gar nicht hinreichend erklären lässt.

In der NS-Debatte mussten sich jene Historiker, die den Holocaust nicht eindimensional auf einen zentralen Befehl zurückführen wollten, Verharmlosung vorwerfen lassen – weil sie angeblich die Schuld der Führungsspitze leugneten. Dabei hat gerade die Suche nach einer Anweisung von oben etwas Entlastendes an sich. Sie lässt sich zwar medial leicht ausschlachten, steht aber auch im Falle der DDR dem tieferen Verständnis der historischen Zusammenhänge eher entgegen.

All jene, die jetzt über den mutmaßlichen „Schießbefehl“ jubeln, verhalten sich deshalb kaum weniger oberflächlich als die von ihnen kritisierten Vertreter der Popkultur, die die DDR nur noch unter ästhetischen Aspekten betrachten.