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Archiv-Artikel

„Sie wollten einfach zerstören“

UNRUHEN Die Organisation Kids Company betreut Jugendliche in London. Ein Gespräch mit der Gründerin über Krawalle, Marken und Ersatzeltern

Camila Batmanghelidjh

■ 48, ist Gründerin der Organisation Kids Company, die Jugendliche in London betreut. Batmanghelidjh kam als Kind aus dem Iran nach Großbritannien.

Foto: Georgia Kuhn

INTERVIEW KARIN SCHÄDLER

taz: Frau Batmanghelidjh, als Sie von den Unruhen in London hörten, hatten Sie Angst, dass Jugendliche mitmachen, die von Ihrer Organisation betreut werden?

Camila Batmanghelidjh: Ja, wir waren sehr beunruhigt. Wir wissen, dass zwei von ihnen stark an den Krawallen beteiligt waren, die meisten anderen allerdings nicht.

Hat die Sozialarbeit bei den beiden versagt?

Interessanterweise hat eine junge Frau, die besonders aktiv dabei war, seit Langem chronische psychische Probleme, und wir wollten – schon als sie noch ein kleines Kind war –, dass das Jugendamt den Fall viel stärker an sich zieht. Das ist aber nicht passiert.

Warum haben die meisten anderen nicht teilgenommen?

Ein wichtiger Grund war, dass sie ihre Betreuer nicht enttäuschen wollten. Ungefähr so, wie man seine Eltern nicht enttäuschen will. Und viele haben mittlerweile auch eine Perspektive, zum Beispiel einen Studienplatz. Trotzdem sagten fast alle, dass sie große Lust gehabt hätten, sich an den Unruhen zu beteiligen. Sie sahen es als Möglichkeit, sich an der Gesellschaft zu rächen.

Rache wofür?

Sie haben den Eindruck, überhaupt keine Chancen zu haben. Sie leben von sehr wenig Geld. Und haben in den letzten Monaten Regierungsmitglieder ständig über Kürzungen sprechen hören, die sie sehr stark betreffen würden – und das in einer solch konsumorientierten Gesellschaft. Außerdem erleben sie dauernd Situationen, in denen sie wie Abschaum behandelt werden.

Das wäre Grund genug, ganze Stadtviertel zu zerstören?

Nein, aber die Jugendlichen, die ich als Initiatoren der Proteste bezeichnen würde, sind schwerwiegend geschädigt. Das sind junge Leute, denen in ihrem Leben auf verschiedene Arten Gewalt angetan wurde. Sie haben ein solch enormes Gewaltpotenzial, weil sie der Gewalt so stark ausgesetzt sind. Für diese Jugendlichen war das definitiv ein Protest, ein Aufstand und ein Aufschrei. Sie hatten kein Interesse an materiellen Dingen, sondern sie wollten einfach Orte zerstören und ihrer Wut Ausdruck verleihen.

Und die anderen, die nicht Initiatoren der Krawalle waren?

Eine zweite Gruppe sind die Mitläufer. Das sind Jugendliche, um die sich relativ gut gekümmert wird. Aber weil sie in Brennpunktvierteln wohnen und ihr soziales Umfeld von den sehr verhaltensgestörten Jugendlichen beherrscht wird, haben sie mitgemacht, um nicht als schwach und dumm zu gelten oder später ausgegrenzt zu werden. Ich glaube, sie hatten auch einfach Angst vor den Initiatoren und wurden mitgerissen. Eine ganz andere Gruppe waren die Opportunisten. Sie sahen, dass alles zusammenbricht. Als die Läden offen standen, gingen sie einfach rein, um sich etwas zu nehmen. Obwohl sie diese Orte nicht selbst angezündet oder die Scheiben selbst eingeschmissen hätten.

Jetzt sind die Unruhen abgeflaut. Sind Sie optimistisch?

Nein, die Stimmung ist schlecht. In einigen Radiosendungen wurden die jungen Leute als Ungeziefer bezeichnet. Jugendliche aus Brennpunktvierteln werden künftig noch mehr Ausgrenzung erleben – egal ob sie mitgemacht haben oder nicht.

Sind die Unruhen denn wirklich vorbei?

Auf der Straße hört man, dass sie weitergehen sollen. Schließlich wurden ja keine Lösungen gefunden.

Ihr Premierminister sieht das wohl anders.

Bisher lag der Fokus auf kurzfristigen Maßnahmen. Polizeiarbeit, Strafe. Jetzt müsste ein Plan entwickelt werden, wie man die Lebenssituation in Brennpunktvierteln verbessern kann. Zum Beispiel, was man mit einer Million junger Menschen macht, die weder im Beruf noch in Aus- oder Weiterbildung ist.

Trauen Sie das Ihrer Regierung zu?

Manche in der Regierung haben es verstanden, bei manchen anderen weiß ich es schlichtweg nicht.

Was muss sich vor allem ändern?

Allen Kindern und Jugendlichen, die kein funktionierendes Elternhaus haben, müssen Betreuer zur Verfügung stehen, die wie zusätzliche Eltern fungieren. Und sie müssen diese jungen Menschen begleiten, bis sie mit Ende zwanzig vollständig unabhängig werden.

Die Jugendlichen sahen die Krawalle als eine Chance, sich an der Gesellschaft zu rächen

Was muss sich bei der Polizei verändern?

Polizisten sind gezwungen, als Kontrollagenten zu fungieren, wenn die Betreuungsstruktur zusammengebrochen ist. Sie können aber keine Lösungen finden, sondern nur kontrollieren, prüfen und Beweise sammeln. Was auch immer Polizisten tun, sie werden nicht gemocht. Natürlich gibt es Polizisten, die rassistisch sind oder sich auf andere Art unmöglich verhalten. Aber man muss auch sagen, dass Polizisten den Zusammenbruch der Betreuungsstruktur seit Jahren thematisieren, während die Sozial- und Jugendämter sehr still sind.

Wenn es nach der Meinung vieler Politiker geht, sind die beteiligten Jugendlichen einfach gierige Diebe.

Es war wirklich clever von den Politikern, alle als gierig zu brandmarken. So kann die Mittel- und Oberschicht weiter so tun, als ob es keine ernsthaften Probleme in der Gesellschaft gibt.

Hat das auf Sie nicht merkwürdig gewirkt, wie junge Leute beim Plündern riesengroße Flachbildschirme mitgenommen haben?

Es ist interessant, welche Produkte besonders hervorgehoben wurden, nämlich teure Sportschuhe und Fernseher. Dabei wurden genauso viele Lebensmittel gestohlen oder Windeln und Babymilch. Darüber sprach aber keiner, denn sonst hätte sich das britische Volk fragen müssen, was eigentlich los ist, dass all diese Menschen Nahrung stehlen müssen.

Trotzdem scheint es so, als seien Jugendliche aus ärmeren Vierteln besonders auf Markenprodukte aus. Warum?

Das liegt hauptsächlich daran, dass diese Produkte sie davor schützen können, angegriffen zu werden. Wenn ein armer Jugendlicher Markenprodukte hat, wird angenommen, dass er sie auf kriminelle Art bekommen hat und zum Beispiel von einer bedeutenden Gang oder einem wichtigen Drogendealer geschützt wird. Folglich wird es niemand als sinnvoll erachten, ihn anzugreifen.