: Debilität und Sprachverlust
KONZERT Das Kollektiv „HGich.T“ bringt Pop-Kritik und Feuilleton mit überfordernden Performances zwischen Billig-Techno, Regression und Frohsinn in Verlegenheit
VON BENJAMIN MOLDENHAUER
Wenn ganz viele Signale auf einmal kommen, muss der Kopf sich anstrengen, damit bald wieder eine Ordnung herrscht. Auf einem HGich.T-Konzert kommen die Signale massiert: Der Raum ist knallebunt geschmückt, plus minus zehn Menschen springen auf der Bühne durcheinander, einige tragen Windeln, Signaljacken oder auch mal nix.
Eine unterkomplexe Neunzigerjahre-Techno-Parodie wummert stoisch vor sich hin, während ein Mann im Hemd, der auf den ersten Blick auch in einem Durchschnittsgroßraumbüro nicht weiter auffallen würde, mit starrem Blick Undurchschaubares brüllt: „Mein Name ist Garfield, ja? Ich war schon immer da, ja?“ Ein junger Sympath mit Nickelbrille verteilt Obst, eine Frau im Lucilectric-Outfit schwebt durch den Raum und umarmt die Besucher, dann wird das Publikum beschimpft: „Tut nicht so, als hättet ihr was verstanden!“
Später am Abend implementiert der Sänger unter den Entsetzensschreien der Umstehenden seine Seele mittels spontanem Zungenkuss in eine offensichtlich überforderte Besucherin. Was das alles soll, man weiß es nicht recht. HGich.T versprechen Regression und Frohsinn, ihre Videos werden auf Youtube millionenfach geklickt. Nach einem mittelgroßen Hype vor gut fünf Jahren ist die Band kein Geheimtipp mehr. Bei ihrem Konzerten versammelt sich ein äußerst heterogenes Publikum, vom Studenten über den Wacken-Veteran bis zum feierwütigen Druffi.
Auch die Hochkultur zeigt sich interessiert. Die „Kulturzeit“ von 3sat hat berichtet, 2011 wurden HGich.T zum Theaterfestival „Impulse“ eingeladen. „Es wurde schon viel von vierten Wänden und deren Niederreißung geredet“, schwärmte die Jury damals. „HGich.T macht ernst mit diesen Fragen, so sehr, dass sie oft mit versammelter Multitude am Festzelt vorbei und in die dahinter aufgebauten Dixieklos rauschen.“ Es finden sich allerdings auch konträre Stimmen. Linus Volkmann befand in der Intro, das alles sei „so scheiße, dass es schon wieder scheiße ist“.
Kunst oder Scheiße? Oder beides oder wie? Die Verantwortlichen hüllen sich in Schweigen oder agieren enigmatisch. Dem Spiegel-Online-Reporter, der im Mai 2010 versuchte, Klarheit herzustellen, verweigerte Sänger Anna Maria Kaiser freundlich, aber bestimmt die Aussage: „Ich weiß ja gar nicht, was du eigentlich willst.“
Was also macht man mit dieser Band? Das Erste, was einem entgegenspringt und sich an den HGich.T-Tonträgern nur abstrakt nachvollziehen lässt, ist eine Lust am Exzess, die in der deutschsprachigen Popmusik zurzeit singulär ist. „Auf der Bühne herrscht bei uns eine Art rechtsfreier Raum“, sagt Dr. Diamond, der freundliche Obstverteiler in seltener Eindeutigkeit. „Da werden die ungeschriebenen, gesellschaftlichen Regeln außer Kraft gesetzt. Da kann sich danebenbenehmen, wer möchte, ohne dafür verurteilt zu werden.“ Die beste Möglichkeit ist also, man macht sich keinen Kopf und zappelt mit. Die Besucher auf HGich.T-Konzerten bemühen sich redlich, sich ähnlich entfesselt aufzuführen, einigen scheint es zu gelingen. Auch die Spex befand, hier würde eine „Situation der scheinbaren Regellosigkeit“ hergestellt. Das „scheinbar“ wiederum deutet darauf hin, dass hier sehr wohl eine strukturbildende Intelligenz am Werk ist. Die hat dann auch dafür gesorgt, dass der rechtfreie Raum konzeptuell stimmig mit irritierenden Signifikanten von Debilität und Sprachverlust gefüllt ist. Im Kosmos von HGich.T wimmelt es von kaputten Hauptschülern („Sex, Sex, Sex an der Tafel“), Drogenopfern und -gurus, Arbeitsverweigerern, sinnzerstörendem Gestammel und Fäkalquatsch („Mama, ich muss mal Bubu“). Die Figuren in den Videos der Band bilden eine eindrucksvolle Parade fleischgewordener Angst- und Ekelphantasien der saturierten Mitte.
Bei aller Spontaneität und ostentativen Planlosigkeit ist diese Ästhetik der Entfesselung aller Wahrscheinlichkeit nach von Anfang bis Ende durchdacht, und der Aufwand, den es braucht, um die Fesseln für einen Abend auf und vor der Bühne abzustreifen, ist beträchtlich.
Der Versuch, all die „ungeschriebenen, gesellschaftlichen Regeln“, die einverleibten Grenzen und Narkotisierungen loszuwerden – die ganzen Masken, die irgendwann dann tatsächlich unwiderruflich zum eigenen Gesicht werden, bleibt immer Theater. Und geht dementsprechend mit neuen, nun grell bemalten und lustigeren Masken einher. Nicht umsonst durchweht einige Videos der Band verstohlene Tragik: Man wird das Gepäck nicht los, egal wie doll man auf die Kacke haut. Das ist dann wieder ganz anrührend. HGich.T-Vortänzer Tutenchamun („Ich fahr gern Ente und machmal auch Mofa, aber am liebsten mag ich tanzen“) hat die Frage, über welche Publikumsreaktion er sich freut, denn auch so eindeutig wie eben möglich beantwortet: „Lachen ist gut. Und wundern. Wundern und dann weinen. Das ist auch gut.“ Und am Montag geht’s dann wieder ins Büro.