: Das Gedächtnis des Bodens
ANTHROPOZÄN Der Mensch ist zum geologischen Faktor geworden. Auf den Oberflächen und tief unter Tage hat die Zivilisation Spuren hinterlassen, die der Boden so schnell nicht vergisst
■ Der auf dieser Seite stehende Text ist ein Vorabdruck aus dem „Bodenatlas 2015“. Im „Internationalen Jahr des Bodens“ und im Vorfeld der Grünen Woche erscheint der „Bodenatlas“ am 8. Januar und liegt am 10. Januar der taz.am Wochenende bei.
■ Von Biodiversität über Landgrabbing bis zu Ökolandbau und Tierhaltung informiert der „Bodenatlas 2015“ auf 52 Seiten mit zahlreichen Grafiken und Schaubildern, aktuellen Daten und Fakten über den Zustand der Böden in Deutschland, Europa und dem Rest der Welt.
■ Der „Bodenatlas“ ist ein Kooperationsprojekt von „LE MONDE diplomatique“, der Heinrich Böll Stiftung, dem IASS Potsdam und dem BUND.
VON DIETMAR BARTZ UND CAROLIN SPERK
Land, Boden, Acker oder Erde – diese Wörter bezeichnen die materiellen Grundlagen der Nahrungsproduktion und haben sich fest in die Kulturgeschichte eingeprägt. Schon in der Frühzeit der indoeuropäischen Sprachen standen sie für unterschiedliche, ja gegensätzliche Bedeutungen.
Die Wortfamilie, zu der das deutsche Wort Boden und das englische bottom gehört, deckte auch einen stationären Inhalt „Grund, Wurzel“ ab. Expansiver hingegen war Land zu verstehen: Es bedeutete „Erweiterung, neue Flächen“. Dann begann der Acker zu dominieren und seine Wortgeschichte erzählt von diesem Übergang. Zunächst war damit nämlich offenes Land oder eine unbebaute Flur gemeint, wohin das Vieh getrieben wurde. Als dort der Getreideanbau begann, blieb der Ausdruck dort hängen.
Land macht gierig und neugierig zugleich, in Europa, im arabischen Raum oder in Asien. Im globalen Maßstab begannen Seewege die Landwege zu verdrängen, als Vasco da Gama mit der Umfahrung Afrikas 1498 den Zugang nach Indien, zu den Gewürzinseln und nach China eröffnete. Die alten Karawanenstraßen verloren ihre Bedeutung. Spanien und Portugal teilten kurzerhand die Welt unter sich auf. Der empirische Beweis, dass die Erde eine Kugel und somit auch das Land endlich ist, gelang der Magellan-Expedition mit ihrer Weltumsegelung von 1519 bis 1522. Aus europäischer Sicht begann damit der Wettlauf um die Eroberung allen Festlandes.
Die ungeheure Brutalität dieses mehrere hundert Jahre dauernden Prozesses wird bis heute gerne von der Faszination der Fremde, von der Aneignung von Reichtümern und vom imperialen Überlegenheitsdenken verdeckt. Das Bibelzitat „Macht euch die Erde untertan“ wurde beliebt. Der holländische Philosoph Hugo Grotius setzte sein Konzept von der „Freiheit der Meere“ dagegen, das sich gegen die römisch-venezianische Tradition des mare nostrum wandte. Es hat dem größten Teil der Ozeane und der Antarktis bis heute das Schicksal der anderen fünf Kontinente erspart, unter der Regierungsgewalt von Staaten zu stehen. Auch Land, das es nicht gab, produzierte Mythen, etwa den sagenhaften Kontinent Atlantis.
Und sie verhießen Land, das tatsächlich existierte: Im 17. Jahrhundert fanden europäische Seefahrer Australien etwa da, wo schon Ptolemäus im 2. Jahrhundert einen Kontinent als „Gegengewicht“ zu den nördlichen Gefilden vermutet hatte. Auf den Karten der Forscher, Kolonialämter und Glücksritter hieß das unbekannte Land zunächst terra incognita und war mit Drachen und anderen Fantasiefiguren ausgemalt. „White of the maps“ nannte ein britischer Forscher diese Zonen, vom schwedischen Tibet-Reisenden Sven Hedin als „weiße Flecken“ ins Deutsche und in die Schulatlanten übertragen.
Weniger Reiselustige und Machthungrige betreten heutzutage im Labor oder am Schreibtisch „wissenschaftliches Neuland“. Seit die Bodenkunde im 19. Jahrhundert zur akademischen Disziplin aufstieg, betrachtet sie ihren Forschungsgegenstand auch als Archiv der Menschheitsgeschichte. Denn Böden legen Zeugnis ab über die Geschichte der Landschaft und der Menschen.
Wer beim Wein von „Terroir“ spricht, meint den besonderen Charakter, der auf die Kombination von Mikroklima und Boden an einem sorgfältig gepflegten Standort zurückzuführen ist. Im Wein entfalten sich die Aromen, die durch die Sonne und die im Boden gespeicherten Nährstoffe entstanden sind – der „Geschmack des Bodens“.
An den Böden können wir auch ablesen, welche klimatischen Bedingungen in der Vergangenheit herrschten, erkennbar an Funden von Pollen und Pflanzenresten oder am Verwitterungsgrad der Mineralien. Anhand von Sedimenten – vor allem von „Kolluvien“, die durch Wasser und Sand gebildet werden und auf menschenbedingte Erosion zurückgehen – lässt sich die Entwicklung von Landschaften und ihre Besiedelungsgeschichte rekonstruieren.
Weltweit gibt es Böden, die durch die Bewirtschaftung so stark verändert sind, dass ihr ursprünglicher Charakter kaum noch erkennbar ist: die „Anthrosole“. Dazu zählen sogenannte Plaggenböden, die etwa in Nordeuropa und in den Reisanbaugebieten in Südostasien zu finden sind. Über Generationen fügten Bauern dem ursprünglich nährstoffarmen Boden die anderswo abgestochenen Gras-„Plaggen“ zu, bis eine Ackerschicht entstand.
Die bis ins Mittelalter verbreiteten Wölb-Äcker erhielten ihre charakteristische Wellenform durch die zeitgenössische Pflügetechnik. Bis heute sind sie, durch Verwaldung geschützt, vielerorts in Europa nachweisbar. Holzkohlefunde lassen auf die Zahl von Siedlern schließen, Bruchstücke von Gebrauchsgegenständen zeigen Alltag und Handelsverbindungen, und die vorgeschichtlichen Muschelabfallhaufen zeugen nicht nur von der Ernährung und der Lebensweise der Menschen, sondern auch vom Steigen und Fallen des Meeresspiegels und damit vom Küstenverlauf.
Auch die Folgen von Krieg vergisst der Boden nicht. Landminen verhindern, dass Bauern ihre Felder bestellen. Sie vertreiben die Bevölkerung und hinterlassen über Jahre ungenutzte Brachen. Militärflächen, oft stark verunreinigt und sich selbst überlassen, haben sich mit ihrer speziellen Biodiversität sogar als eigenes Forschungsgebiet etabliert.
Als der Chemienobelpreisträger Paul Crutzen im Jahr 2000 bei einer Konferenz mit einem Zwischenruf das „Anthropozän“ ausrief, wollte er zunächst nur seinen Kollegen vor Augen führen, dass der Mensch längst zum entscheidenden geologischen Faktor geworden ist. Doch der Begriff hat sich sogleich verfestigt. Die Böden der Städte sind sowohl in ihrer biologisch-chemischen Zusammensetzung als auch in ihrer physikalischen Struktur so sehr verändert, dass sie nun zu den „Anthrosolen“ gezählt werden. „Technosole“ sind dagegen Böden, die vor allem aus „künstlichen“ oder „technischen“ Materialien wie Beton, Glas und Ziegeln bestehen, aus Trümmerschutt, Hausmüll und industriellem Abfall in allen Größenordnungen.
Anthrosole und Technosole, die Böden des Anthropozän, zeigen die nahezu geologische Kraft des Menschen. Die Experten diskutieren noch, ob und in welcher Form sich das Anthropozän auch in Gesteinsschichten niederschlagen wird. Im Falle von Schiefergas-Fracking, der Verpressung von Kohlendioxid und unterirdischen Atombombentests ist die Frage bereits beantwortet.
■ Dietmar Bartz ist freier Journalist und Projektmanager des „Bodenatlas“
■ Carolin Sperk ist Wissenschaftliche Assistentin im Exekutivbüro des Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS) in Potsdam