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Archiv-Artikel

Hirchopolis in der Heide

Hirngespinst oder Chance? Der Vorstoß von Niedersachsens Wirtschaftsminister Hirche, einen ICE-Bahnhof samt Stadt in der Lüneburger Heide zu bauen, findet nicht nur Freunde. Das Projekt wird sicher viele Gegner haben, meint Hirche selbst

DIE AMERIKA-LINIE

1873 wurde die Amerika-Linie als kürzeste Verbindung von Berlin zum Flottenstützpunkt in Wilhelmshaven in Betrieb genommen. In der Folge wurde die Strecke von zehntausenden Auswanderern aus dem Osten des Deutschen Reichs und Osteuropa für die Fahrt Richtung Bremen genutzt. Letzte Station war der Kolumbus-Kai in Bremerhaven, noch 1938 fuhren hier täglich 64 Züge ein. Nach der Wiedervereinigung wurde die Verbindung Uelzen–Salzwedel–Stendal wieder eingleisig elektrifiziert. Derzeit fahren wenige Züge von Munster (Örzte) oder Uelzen Richtung Magdeburg. In der Lüneburger Heide nutzen einige Regional- und Güterbahnen die Gleise nach Bremen. taz

VON KAI SCHÖNEBERG

Irgendwo zwischen Soltau, Visselhövede und Bomlitz könnte es stehen: Hirche-City, Hirchopolis. Oder Waltershausen. Mit einer Guido-Westerwelle-Straße und Genscher-Denkmal vor dem Rathaus, in dem alle Mitarbeiter gelbe Pollunder tragen. So lästern Spötter über den taufrischen Plan von FDP-Urgestein Walter Hirche. Dabei denkt Niedersachsens Wirtschaftsminister nur in langen Zeitabschnitten, wenn er von einer neuen Stadt samt ICE-Bahnhof mitten in der Lüneburger Heide träumt. Auch Hirche weiß, dass die Einwohnerzahl Niedersachsens bis 2050 um 1,4 auf acht Millionen Menschen sinken soll. Davon werden besonders strukturschwache Regionen wie die Heide betroffen sein. Aber: Hirche will der siechen Gegend mit der neuen Stadt eine Chance verpassen: „Man sollte in fünf bis zehn Jahren diskutieren, ob das Sinn ergibt.“

Die ICE, die etwa ab 2015 über die so genannte Y-Trasse von Hamburg nach Bremen und Hannover fahren sollen, will Hirche nicht ohne Haltepunkt durch die Heide donnern lassen. Hirche stellt sich einen Bahnhof an der Kreuzung mit der „Amerika-Linie“ vor. Das ist eine Eisenbahntrasse, die über Stendal und Uelzen bis zum Zweiten Weltkrieg Auswanderer und Flüchtlinge Richtung Schiff nach Bremerhaven brachte. Sie ist bereits wieder belebt, aber nicht durchgängig benutzt. Planungen für einen Komplett-Aufbau gibt es jedoch schon. Rund um den neuen Bahn-Knoten will Hirche eine Siedlung entstehen lassen. „Die Menschen sollen durch die Eisenbahnlinien nicht nur belastet werden“, sagt der Minister. Mit einer Stadt sei die Versuchung, die Heide zu verlassen, nicht so groß. Auch beim Bau des Mittellandkanals vor 100 Jahren habe niemand geglaubt, dass er eines Tages eine wichtige Wirtschaftsachse für Niedersachsen sein könne.

„Vor Ort wird das Projekt sicher auch viele Gegner haben“, meint Hirche. Aber: „Man muss bereit sein, einen Stein ins Wasser zu werfen – auch wenn es spritzt.“ Es spritzt: Mit diesem Vorschlag lehne sich Hirche „nicht nur weit aus dem Fenster, er ist bereits unten aufgeschlagen“, sagt SPD-Spitzenkandidat Wolfgang Jüttner. Er hält die Hirche-Story für einen Sommerloch-Gag. Zudem gebe es für einen ICE-Bahnhof in der Heide nicht genug Fahrgäste.

Auch die Bahn ist vorsichtig: Ein Stopp in der Heide könnte nicht nur den Zeitvorteil durch die Y-Trasse wieder aufschmelzen lassen. Beispiele wie die von Provinzfürsten durchgedrückten ICE-Haltepunkte in Montabaur und Limburg schrecken ab. Die beiden Bahnhöfe an der Neubaustrecke zwischen Köln und Frankfurt am Main kosteten bis zu 20 Millionen Euro – und werden heute kaum genutzt. Hirche fragt, was zwei Minuten Fahrzeitverlust im Vergleich zum Aufschwung für die ganze Region bedeuten. Außerdem hat er das Thema schon mit Bahn-Vorstandsmitglied Otto Wiesheu besprochen – aber offenbar nicht viel Zuspruch geerntet: „Ich könnte mir vorstellen, dass die Bahn da zunächst mal mit spitzen Fingern herangeht.“

Vor Ort findet das Projekt jedoch auch Befürworter: Die Y-Trassenplanung habe für Visselhövede bislang nur Nachteile gebracht, sagt Bürgermeisterin Franka Strehse (SPD). „Von der Ertüchtigung der Amerika-Linie könnten wir dagegen profitieren“, sagt sie. Westlich von ihrem 10.600 Einwohner großen Städtchen könnte Hirche-City entstehen. Soltaus Bürgermeister Wilhelm Ruhkopf (SPD) ist zwiegespalten: Er findet, die Idee könnte die Heide-Region aufwerten, Bahnlärm und Naturzerstörung aber auch Touristen abschrecken. Außerdem glaubt der Vorsteher der 22.000-Einwohner-Gemeinde nicht, „dass man sich im Vorfeld der Landtagswahl viele Freunde macht mit dem Thema.“

Das hinderte den Lüneburger CDU-Landtagsabgeordneten Bernd Althusmann am Donnerstag nicht, das Projekt zu begrüßen: „Ein ICE-Halt würde die wirtschaftliche Entwicklung der Region deutlich stärken.“ Auch der Grüne Abgeordnete Enno Hagenah hält den Hirche-Plan nicht für absurd, weil ein Bahnhof Menschen vom Autofahren abhält. Allerdings dürfe der Minister keinen Tauschhandel – ICE-Stopp für das Ende des Widerstands gegen die Bahn-Teilprivatisierung – vorbereiten. Damit würde Hirche dem Land einen Bärendienst erweisen, sagt Hagenah.