Sittengemälde und Klassenkampf

Flensburg gegen Kiel, das ist das Handball-Derby schlechthin, das ist Dortmund gegen Schalke plus HSV gegen Werder. Das neue Buch „In der Hitze des Nordens“ schildert eindrücklich die Geschichte der ewigen Rivalität zwischen den Spitzenhandballern des THW Kiel und der SG Flensburg-Handewitt

VON RALF LORENZEN

Das Frühjahr 2007 sorgte für ein Novum in der Sportgeschichte. Die beiden weltbesten Teams einer Sportart kamen erstmals aus nicht einmal 90 km voneinander entfernten Städten und traten innerhalb weniger Wochen gleich viermal zum Showdown an. Flensburg gegen Kiel, das ist das Handball-Derby schlechthin, das ist Dortmund gegen Schalke plus HSV gegen Werder! Als einziges der alten Bundesländer hat Schleswig-Holstein noch nie einen Fußball-Erstligisten gestellt – dafür gibt es hier im Grenzland zwischen Deutschland und Dänemark eine lange, große Handballtradition.

Lange Handballtradition

Diese aufzuschreiben, wurde dem Hamburger Sportjournalisten Frank Schneller bereits in die Wiege gelegt – sein Vater gewann mit dem Flensburger TB die norddeutschen Meisterschaften im Feldhandball 1958 und 1959: „Volker Schneller, zusammen mit den Brüdern Fynn und Jan Holpert der bis dato einzige waschechte Flensburger, der deutscher Meister wurde.“

Viele Leute glauben ja, Geschichte werde von Menschen gemacht, von ihren Stärken, Eitelkeiten und Intrigen. Die kommen bei diesem Buch voll auf ihre Kosten. Mit profundem Insiderwissen verfolgt Schneller die Lebenslinien der Macher und Entscheider, die sich im Großdorf Schleswig-Holstein auf dem Spielfeld und hinter den Kulissen immer wieder kreuzen.

Märchenhafte Aufstiege

Da sind die Idole von Hein Dahlinger und Siegfried Perrey bis Stefan Lövgren und Jan Holpert, da gibt es neben Gründergeist und märchenhaften Aufstiegen auch jede Menge alte Rechnungen, schmutzige Wäsche und Geheimtreffen. Wer einmal die eisige Kälte erlebt hat, mit der sich bis heute der einst von Flensburg nach Kiel gewechselte Trainer Noka Serdarusic und der den umgekehrten Weg gegangene Manager Thorsten Storm begegnen, der erfährt hier endlich die Vorgeschichte mit Verabredungen zu Steak und Rotwein, ausgeplauderten Geheimnissen und dem angeblichen Verrat einer großen Männerfreundschaft.

Schneller und sein Co-Autor Frank Heike zeichnen selbst alltäglichste Ereignisse mit journalistischer Akribie nach und so entsteht das Sittenbild einer Branche, die letztlich auch nicht anders tickt als der eigene Schützenverein.

Nun gibt es aber Leute, die hängen einer historisch-materialistischen Geschichtsauffassung an. Auch die sind hier richtig und lernen, dass die zur Hochzeit des Feldhandballs noch dominierenden Flensburger in der Ära des Hallenhandballs nicht deshalb ins Hintertreffen gerieten, weil sie die schlechteren Spieler hatten, sondern die schlechtere Halle.

Anders als die klapprige alte Duborghalle in Flensburg war die bereist 1951 eingeweihte Kieler Ostseehalle der ideale Nährboden für die ursprüngliche Akkumulation des Handball-Fiebers. „Handball in Kiel und Flensburg – das sind zwei Erfolgstorys, die gleichermaßen miteinander kollidieren und sich bedingen“, und so ist auch diese Geschichte eine der Klassenkämpfe, an deren vorläufigem Ende aus postfeudalen Klitschen prosperierende Wirtschaftsunternehmen geworden sind.

Wahre Nervenschlachten

Und dann gibt es noch Leute, die lieben dramatische, schön bebilderte Sportgeschichten. Die Spielberichte im Kapitel Nervenschlachten, Jahrhundertspiele und Sekundenentscheidungen sind spannender als viele TV-Übertragungen und wiederum angereichert mit mancher Anekdote. „Hey Nicolai – mach jetzt ein Tor. Es geht um 10.000 Euro Prämie für mich“, soll Noka Serdarusic beim Pokalfinale 2000 Linksaußen Nicolai Jacobsen zugerufen haben, der darauf zwei entscheidende Tore warf. Diese Einzelschilderungen verdichtet der Autor im abschließenden Kapitel zu einer klugen Analyse der jeweiligen Spielphilosophien.

Keine Atempause

Und schließlich gibt es Leute, die parteiisch sind, als Fans oder Funktionäre. Und für die ist das Buch leider kein ungeteiltes Vergnügen, sofern sie von der Flensburger Förde kommen. Da Autor und Verlag sich entschieden haben, das Ende vor den Anfang zu setzen, müssen sie analog zu den Ergebnissen im wirklichen Leben zunächst durch 35 Seiten Kieler Triumph-Marsch hindurch. „Der Film ,Das Wunder von Bern‘ interessiert in Ungarn auch niemand“, hieß es bei der Buchpräsentation in Flensburg und von Vereinsvertretern hört man, dass sie angesichts der Kieler Dominanz im Buch verärgert sind. „The winner takes it all“ – der erste Eindruck des Buches gibt den Kritikern recht. Wer sich aber bis zum Ende durchgearbeitet hat, der weiß über Flensburgs Systemhandball genauso Bescheid wie über das Kieler Tempospiel und wird auch diese Schlappe sportlich nehmen. Keine Atempause, Geschichte wird gemacht!