: Gefühlte Jugend
Zehn Jahre Radioeins: Im heiß umkämpften Berliner Radiomarkt hat sich „Das Radio nur für Erwachsene“ gegen die Konkurrenz durchgesetzt. Auch die Verteidigung von Wortbeiträgen hat es vor der Gesichtslosigkeit der Privatsender gerettet
VON HEIKE RUNGE
Das Geburtstagsständchen kommt von P R Kantate: Er hat den Helden-Titel „Bitte gib mir nur ein Wort“ gecovert als ironische Hommage an ein Geburtstagskind, das in den letzten zehn Jahren ziemlich viele Worte gemacht hat. Radioeins ist ein Sender, den es nach dem Gesetz der allgemeinen Verflachung in der Radiolandschaft gar nicht geben dürfte. Als er vor einem Jahrzehnt gegründet wurde, galt es als kühnes Unterfangen, ein Radio mit einem anspruchsvollen Kulturprogramm in die Hauptstadtwelt zu setzen.
Als Radioeins im August 1997 antrat, hatten die Privatsender sich 80 Prozent Marktanteil bei den unter 45-Jährigen gesichert. Unter Radioleuten galt die Devise, dass man die Privaten nur mit ihren eigenen Mitteln schlagen kann – und auf keinen Fall wortlastig sein darf. Anders Helmut Lehnert. Der Gründervater und langjährige Chefredakteur von Radioeins, heute beim rbb-Fernsehen, aber weiterhin Moderator bei seinem Radio, traute einer mit MTV erwachsen gewordenen Generation ein durchaus lebhaftes Kulturinteresse zu.
Er wollte die Hörer mit einer ganz eigenen Formensprache des Radios gewinnen. Authentisch, aber nicht distanzlos, kritisch, aber nicht belehrend. Auch mit im Gründungsteam war Peter Radszuhn, heute stellvertretender Chefredakteur und Musikchef. Es war die Zeit, als Ost und West zusammenkamen und klar wurde, dass man zur Kulturmetropole aufstieg. „In diesem Spannungsfeld“, sagt Radszuhn, „war es toll, mit so einem schnellen Medium wie Radio arbeiten zu können. Also wirklich rauszugehen ins Nachtleben und Reportagen aus den Clubs zu machen. Wir hatten am Anfang eine wunderbare Sendeschiene von 21 bis 23 Uhr, mit der wir versuchten, dieses urbane Leben ins Programm zu holen.“
Brandneu war das Konzept des urbanen Echtzeitradios ohne sogenanntes Voicetracking und mit vielen Music-Specials allerdings auch nicht. Radio Fritz verfolgte bereits sehr ähnliche Ziele, allerdings für die jüngere Hörerschaft unter dreißig. Bevor Radio B Zwei des SFB und Radio Brandenburg des ORB am 29. August 1997 zum neuen Sender fusionierten und das Kind Radioeins genannt wurde, war das Projekt von seinen Gründern denn auch oft als „Fritz für Erwachsene“ tituliert worden.
Die programmatische Nähe zum jüngeren Konkurrenzformat sorgt bis heute immer wieder für Konflikte. Beide Sender sind im selben Haus untergebracht und senden oftmals in dieselbe Zielgruppe hinein. Zudem gibt es personelle Wanderungsbewegungen. Also musste auch schon mal ein Mediator ran, um die Revierkämpfe einzudämmen. Wirklich auflösen lassen die Spannungen sich nicht, weil das Konkurrenzproblem zwischen beiden Sendern vor allem ein strukturelles ist.
Radioeins war immer schon ein Lieblingskind der Verantwortlichen im rbb und ein Vorzeigeradio des Kulturbetriebs. Als erster Sender überhaupt sahnte es 2003 den „Echo“ für die beste Medialeistung ab. Dass sie auch aus Hörersicht vieles richtig gemacht hatten, war zwei Jahre später offenkundig, als der Sender mit 100.000 Hörern pro Durchschnittsstunde zum zweiterfolgreichsten Radio des rbb wurde.
Ein probates Rezept des Senders ist es, mit durchaus eigenwilligen Moderatoren (wie Bettina Rust, Knut Elstermann, Marion Brasch, Christoph Grissemann und Dirk Stermann) statt mit penetrant gutgelaunten DJs zu arbeiten. Das Programmschema hat neben Infotainment der klügeren Sorte auch jede Menge Platz für Schrägheiten, wie die Namensforschung, die ein Leipziger Professor live am Telefon für onomastischen Rat suchende Hörer betreibt („Numen, Nomen, Namen“), und kann sich andererseits auf einige Basics stützen, wie die schon berühmt gewordenen viertelstündigen Popsplits, die die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte großer Songs erzählen.
Und natürlich ist es die spezielle Musikmischung aus populären und expliziten Rock- und Popstücken der letzten 40 Jahre, die die Senderidentität ausmacht. Grönemeyer wird gespielt, aber nicht die Brüller. Ansonsten sind Stücke wie Kaiser Chiefs „Ruby“ oder „Grace Kelly“ von Mika der typische Sound des „Radios nur für Erwachsene“ (Slogan). Heavy Rotation ist tabu, man wiederholt jetzt 8 bis 10 Mal die Woche einen Song. „Dennoch beklagen sich neuerdings einige Hörer über zu viel Rotation“, sagt Radszuhn. Auch in solcher Kritik spiegeln sich die veränderten Hörgewohnheiten eines vom iPod verwöhnten Publikums, das jederzeit auf sein 10.000 Titel umfassendes Privatarchiv Zugriff hat.
Radioeins hat sich die Kontextualisierung des Pop auf die Fahnen geschrieben, man wollte die Stücke nicht einfach abspielen, sondern über Interviews und Kritiken gesellschaftliche Bezüge herstellen. Das gefällt in der Ausführlichkeit nicht allen Hörern. „Zu viel Gequatsche“, lautet ein Standardvorwurf. Zwar ist die Generation iPod der unter Dreißigjährigen gar nicht die Zielgruppe, aber bekanntlich haben reales und gefühltes Alter oft wenig miteinander zu tun. Die anvisierte Hörergruppe der kulturinteressierten Leistungsträger orientiert sich nun mal ausgesprochen gerne an den Jugendlichkeitsmodellen der Subkultur. „Niemand kann einen 40-Jährigen daran hindern, sich weiterhin jugendlich zu fühlen“, kommentiert Radszuhn das Zielgruppendurcheinander.
Berlin ist europaweit der umkämpfteste und zugleich innovativste Radiomarkt – das zeigen auch die Traumquoten der beiden Newcomer Radio Teddy für die 9- bis 13-Jährigen und Motor FM für die Zielgruppe bis 30. Mit Tim Renners Senkrechtstarter Motor FM ist Fritz ein gefährlicher Konkurrent erwachsen. Fritz kündigte prompt an, sich nun personell zu verjüngen. Und auch Radioeins wird sein Moderatorenteam zum Jubiläum auffrischen, genauso wie sein Programm.
Die wichtigste Innovation ist das neue Berliner City-Studio im Admiralspalast, mit dem man die Mitte Berlins zurückerobern will. Studiogäste müssen nicht mehr ins beschauliche Potsdam gekarrt werden. Künftig wird auch Montag bis Freitag die Abendstrecke von 19 bis 21 Uhr immer komplett aus dem Studio in der Friedrichstraße gesendet.
Radioeins kehrt damit zurück zum Clubradio-Konzept der Anfangsjahre, verschiebt die Strecken allerdings auf den frühen Abend, um das ausgehbereite Publikum tatsächlich noch zuhause zu erwischen. In der aktuellen Medienkampagne zum Geburtstag sieht man langhaarige Erwachsene, die sich den Dancefloor erobert haben. Ob auch Radioeins einen zweiten Clubfrühling erlebt, weiß man spätestens in diesem Winter.