piwik no script img

„Schieß in den Kopf!“

AUS LEIPZIG JON MENDRALA

Der Prozess um den so genannten Ehrenmord an Hatun Sürücü wird neu aufgerollt. Das hat der Bundesgerichtshof (BGH) gestern in Leipzig entschieden und folgte damit im Revisionsverfahren den Anträgen der Staatsanwaltschaft. Diese hatte unter anderem eine lückenhafte Urteilsabwägung bei dem Verfahren bemängelt, in dem das Landgericht Berlin die Brüder Mutlu und Alpaslan Sürücü im April 2006 freigesprochen hatte. Die beiden werden sich erneut wegen des Mordes an ihrer Schwester verantworten müssen. Die Verurteilung des jüngsten Bruders Ayhan Sürücü wegen Mordes zu einer Jugendstrafe von neun Jahren und drei Monaten Haft ist durch die Entscheidung des BGH nicht betroffen.

Am Vormittag hatte Bundesanwalt Hartmut Schneider in der Revisionsverhandlung vor dem 5. Strafsenat des BGH von einem lückenhaftem Verfahren und Rechtsfehlern im Urteil des Berliner Landgerichts vom April 2006 gesprochen. Damals hatte das Berliner Landgericht den 19-jährigen Ayhan Sürücu wegen Mordes an seiner Schwester Hatun verurteilt. Hatun Sürücu hatte sich von ihrer islamisch geprägten kurdischen Familie abgewandt und einen westlichen Lebensstil geführt. Ihre Brüder wollten daraufhin eine „Ehrverletzung“ ihrer Familie festgestellt haben. Ayhan Sürücü, der jüngste der Brüder, tötete seine Schwester am 7. Februar 2005 mit drei Schüssen an einer Bushaltestelle in Berlin-Tempelhof.

Das Landgericht hatte die zwei älteren Brüder Alpaslan und Mutlu Sürücü aus Mangel an Beweisen von der Mittäterschaft freigesprochen. Die BGH-Berichterstatterin Gerhardt trug gestern mehrere Fragen vor, auf die vor dem Landgericht keine Antworten gefunden worden waren. So eine SMS, die Ayhan Sürücü wenige Minuten nach dem Mord an Alpaslan geschickt hatte. Der Text „Ich bin am Kotti, wo bist du?“ [Kottbusser Tor; Anm. d. Red.], der nachweislich nicht mit dem tatsächlichen Standort des Mörders übereinstimmte, könnte die Absicht zeigen, eine mögliche Tatbeteiligung Alpaslan Sürücüs zu verschleiern.

Auch trug die Berichterstatterin vor, dass Ayhans damalige Freundin M. aussagte, Ayhan habe ihr gesagt, seine Brüder und er hätten die Tat gemeinsam geplant. Später widerrief Ayhan diese Äußerung zwar nicht, gab aber an, er hätte seine Freundin angelogen, um sie zu „beruhigen“, er habe die Tat nicht alleine begangen. Interessant ist allerdings, dass Ayhans Freundin von dem Vorhaben der Sürücü-Brüder wusste und dies offenbar auch billigte. Das Paar plante sogar, Hatun Sürücüs damals 5 Jahre alten Sohn zu adoptieren und nach traditionellen Riten zu erziehen. Im Laufe des Verfahrens fiel sie um und wurde zur Kronzeugin der Anklage. Auch die Angabe, der älteste Bruder Mutlu Sürücü habe die Tatwaffe „von einem Russen am Bahnhof Zoo“ für 800 Euro erworben, wurde als „ausgesprochen uninspirierte Geschichte“ eingestuft, so Bundesanwalt Schneider. Ayhan, der jüngste der Brüder, habe sich außerdem bei seinen Brüdern Tipps geben lassen, wie ihre Schwester am besten zu töten sei. Die Kronzeugin sagte später, in der U-Bahn habe der älteste Bruder Ayhan geraten: „Schieß ihr am besten in den Kopf!“

Das Landgericht Berlin konnte diese offenen Fragen in seiner Urteilsfindung damals nicht aufklären. Nun hat der BGH den Weg frei gemacht, um den Fall Sürücü noch einmal neu aufzurollen. Ein Schwurgericht in Berlin soll erneut darüber befinden, ob die Brüder Alpaslan und Mutlu der Mittäterschaft verurteilt werden können. Da Alpaslan sich derzeit in der Türkei aufhält, müsste Deutschland einen Auslieferungsanstrag stellen.

In seiner Begründung sprach das Gericht von dem Verdacht der Ankündigungstatsachen in Zusammenhang mit der Schusswaffenbeschaffung. Ferner legten die Richter zugrunde, dass Ayhan noch in der Hauptverhandlung von einer „Affekttat“ sprach. Ein Eingeständnis, die Brüder seien beteiligt gewesen, hätte die Strategie der Verteidigung zunichte gemacht.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen