piwik no script img

Archiv-Artikel

Blühende Aliens in Moabit

An den Straßenrändern und in den Hinterhöfen der Stadt finden Experten die exotischsten Pflanzenarten. Manche der botanischen Einwanderer sind sogar aus Australien angereist

Nur noch schnell die Lupe geputzt und festes Schuhwerk angezogen: Es geht auf Expedition – im Herzen von Moabit. Die 20 Teilnehmer, die der Einladung des Botanischen Vereins Berlins zur Begehung des Moabiter Naturlehrpfads gefolgt sind, erwartet ein echtes Abenteuer: Pflasterritzen-Vegetation, so exotisch und vielfältig, wie sie sonst nur Botanische Gärten bieten.

Schon nach wenigen hundert Metern der erste Halt an einem Laternenpfahl in der Waldstraße. Unten, in den Ritzen des Kopfsteinpflasters, kämpft sich etwas Gelbblühendes ans Licht. Die Teilnehmer rätseln, anwesende Experten wie Herbert Sukopp, ein Pionier der Stadtökologie, halten sich vornehm zurück. Bis Ulrike Willerding vom BUND, der die Führung veranstaltet, das Gewächs als schmalblättriges Greiskraut, Senecio inaequidens, identifiziert. Ein Raunen geht durch die Gruppe.

Denn Senecio ist das Paradebeispiel eines erfolgreichen Neophyten, eines botanischen Einwanderers. Die Pflanze stammt aus Südafrika und kam wohl im 19. Jahrhundert mit einer Lieferung Schafwolle nach Europa. Wenn es einmal Wurzeln geschlagen hat, produziert Senecio Unmengen von Samen. Die verbreiten sich nach und nach über das Land, mit dem Wind, aber auch durch Luftwirbel an Autobahnen und Eisenbahngleisen. So gelangte die Pflanze vor 15 Jahren auch nach Berlin, wo sie heiße und steinige Nischen besiedelt – ganz wie zu Hause.

Ungeliebte Ambrosia

Dann die Ambrosia artemisiifolia, die beifußblättrige Ambrosie. Eine ungeliebte Bekannte, die sich in einem Gebüsch in einem Hinterhof versteckt. Das unscheinbare Kraut stammt aus dem Nordosten der USA und tauchte während des Ersten Weltkriegs plötzlich in der Schweiz auf. Wahrscheinlich kam Ambrosia mit dem globalen Warenverkehr in die alte Welt, wo sie sich prompt heimisch fühlte. Hier, im Unionspark, verursacht sie große Unruhe bei den Expeditionsteilnehmern.

Ambrosia, das wissen inzwischen viele, produziert Pollen, die bei manchen Menschen schwere allergische Reaktionen auslösen. Glaubt man manchen Forschern, so besitzt der nordamerikanische Neophyt das weltweit potenteste Allergen: Seine Pollen setzen in den oberen Atemwegen Eiweißmoleküle frei, auf die der Körper besonders heftig reagiert.

Die Gruppe diskutiert leidenschaftlich darüber, wie mit solch ungebetenen Gästen zu verfahren sei. Sie ausreißen? Oder ein Existenzrecht zugestehen? Die Botanikern Ulrike Doyle erstellt selbst ökologische Gutachten und hält es durchaus für problematisch, wenn giftige oder allergene Pflanzen von der Öffentlichkeit nicht erkannt werden. Sie entschließt sich schließlich, das Monster zu entfernen – nicht ohne vorher ihre Hände in eine Plastiktüte gewickelt zu haben.

Dank seiner allergischen Eigenschaften hat es Ambrosia sogar in die Schlagzeilen geschafft. Doch die Mehrzahl der zugewanderten Arten führt in Berlin ein Schattendasein, manche tauchen so plötzlich in den Ritzen eines Gehwegs auf, wie sie wieder verschwinden. Etwa die Gänsefußart in der Krefelder Straße, Höhepunkt der Expedition: Chenopodium pumilio ist eigentlich in Australien und Tasmanien heimisch und hat es möglicherweise im Profil eines Flugzeugreifens bis Berlin geschafft.

Trittfestes Kraut

Vielleicht ist die einjährige Art nächstes Jahr schon wieder verschwunden. Vielleicht auch nicht. Denn an die Tücken seiner neuen Heimat ist der australische Gänsefuß perfekt angepasst: Am sicheren Gehsteigrand wächst er zehn Zentimeter in die Höhe, während er sich in der Mitte des Weges in die Ritzen duckt. „Trittfest,“ nennen das die Botaniker. Verantwortlich dafür ist ein genetischer Trick, der Wachstum fördert oder hemmt, gerade so, wie es der Lebensraum verlangt. CARL GIERSTORFER

Die nächste Tour vom BUND Berlin – zusammen mit dem „Netzwerk für 20 grüne Hauptwege“ – findet am 1. September statt. Treffpunkt: Möckernstraße Ecke Wartenburgstraße, 14.30 Uhr. Erkundet wird die Flora des Gleisdreiecks