Wie geht es Ihnen?

ALTERNATIVE REALITÄT Der Erzählungsband „Urwaldgäste“ von Roman Ehrlich irritiert im besten Sinne

VON ANGELA LEINEN

Bewehrt mit allerhand Gerät, auch allen Schichten eng vertraut, sind diese Affen doch nur Urwaldgäste“ – welcher Begriff wird hier gesucht? Er stammt aus einem „Querdenkerrätsel, das ein junger Mann in einer Bahnhofsgaststätte bearbeitet“. Der junge Mann ist Teil einer Inszenierung, die Gaststätte eine potemkinsche Bahnhofsgaststätte, aufgebaut für Arne Heym, den Protagonisten der Erzählung „Die Intelligenz der Pflanzen (Naturtreue)“ von Roman Ehrlich.

Verwirrend? Ja, verwirrend, mehr noch für Arne Heym als für den Leser. Heym, ein „Mensch mit botanischem Fachwissen“, der nun „Zier- und Dekorpflanzen“ herstellt, hat einer „Agentur für Alternative Realitäten“ 2.800 Euro gezahlt, um sich nun in der „Alternativen Realität“, der Kulisse eines für ihn aufgebauten Kriminalromans wiederzufinden.

Seekuh Tiffany

Mit dem Erzählungsband „Urwaldgäste“ hat der 30-jährige Autor Roman Ehrlich nach dem Roman „Das kalte Jahr“ (2013) sein zweites Buch vorgelegt. Es enthält zehn Erzählungen, doch wenn man die darin enthaltenen Geschichten einzeln wertet, kommt ein Vielfaches heraus. Bis zu sieben Stränge stehen in einer Erzählung nebeneinander, ohne dass sich deren Protagonisten über den Weg laufen. Scheinbar ohne Zusammenhang, unfreiwillige literarische Nachbarn sind etwa die Seekuh Tiffany, die „ein Kinderkassettenradio der Marke Fisher-Price“ ausgespuckt hat, der Innenminister, der im Fernsehinterview über die Häkeldeckchen seiner Großmutter und die Schönheit geschlossener Systeme spricht und der junge Ministrant, der dem Pfarrer die Klobürste holt – um segnend die vorbeifahrenden Autos mit Weihwasser zu bespritzen.

Gemeinsamkeiten zu finden, dafür gibt der Autor reichlich Anhaltspunkte und Andeutungen. Ein wiederkehrendes Motiv zum Beispiel ist, dass die Figuren an unpassender Stelle persönlich werden und anfangen, über Gefühle zu reden: Wie der Innenminister mit der Häkeldeckchenvergangenheit, der Pfleger der Seekuh, der plötzlich über Liebe spricht, oder die Quizshowkandidatin, die intensiv über ihre Berufsunfähigkeit befragt wird.

Grinello Clean Solutions

Am deutlichsten ist diese irritierende Offenheit in der ersten Geschichte des Bands geschildert, „Dinge, die sich im Rahmen meiner temporären Anstellung bei der Grinello Clean Solutions ereigneten“. Der Protagonist, der sich zurzeit „als soziales Wesen, als Mensch unter Menschen, unanbietbar“ findet, nimmt einen Job bei einer Firma an, deren Geschäftsmodell ebenso im Dunkeln bleibt wie die Tätigkeit der Lester Corp. in dem Film „Being John Malkovich“.

Es ist Aufgabe des Ich-Erzählers, eine lange Liste abzutelefonieren, um Verkaufsgespräche für den „Aquonic Transformer“ einzuleiten, ein Produkt, „das auf molekularer Ebene gegen ganz alltägliche Probleme vorging“. Als Abnehmer sind die Angerufenen hoffnungslose Fälle, doch der „sozial unanbietbare“ Protagonist beginnt plötzlich, sich wieder für Menschen zu interessieren. Seine Frage „Wie geht es Ihnen?“ löst einen Schwall verschachtelter Geschichten aus.

Verschachtelt sind dann auch die Sätze, genau da, wo es hinpasst: „Als ich die Klinke herunterdrückte, sagte der junge Mensch in der Teeküche, sagte der Mann im Auto, erzählte mir die Person am Telefon, …“ Wie anders sollte man auch erzählen, wenn jemand jemandem erzählt, was jemand über jemanden erzählt hat? Die Erzählungen spielen in der Gegenwart, es gibt Internet und DVD-Verleihe (nur noch wenige), aber durch die oft altmodische und umständliche, manchmal vage bleibende Wortwahl gibt Roman Ehrlich ihnen etwas Zeitloses, Parabelhaftes. Der Ich-Erzähler könnte „Ringbahn“ sagen, aber „eine die Stadt ringförmig umkreisende Bahn, die immer nur links um die Kurven bog und dabei viele Werktätige in sich aufnahm“ zeigt, wie fremd er sich in der Welt fühlt.

Ehrlich bevölkert seine Geschichten mit fast eigenschaftslosen Menschen, die in irritierende Situationen geraten oder irritierende Dinge tun, meist nur ein, zwei Schritte von der Normalität entfernt. Selten geht es um Beziehungen im klassischen Sinne, viel mehr um die Beziehung des Menschen zu seiner Arbeit und seiner Umgebung. „Urwaldgäste“ ist keine schwere Lektüre. Aber wenn man der Irritation nachgehen und Verbindungen herstellen will, reicht ein Lesedurchgang nicht aus.

Roman Ehrlich: „Urwaldgäste“. Dumont, Köln 2014. 272 Seiten, 19,99 Euro