: Ereigniskomplex „9/11“
NEW YORK Wenn Kunst auf weltpolitische Ereignisse trifft – die Ausstellung „September 11“ im PS1
„Canyon of Heroes“ nennen die New Yorker einen Abschnitt des Broadways, der durch den Finanzdistrikt Manhattans führt und sich bei besonderen Anlässen in eine nationale Bühne verwandelt. Wenn die Yankees die World Series gewinnen, ist das der Fall, aber auch, wenn ein Krieg gefeiert wird. Im Sommer 1991, anlässlich des Endes des ersten Golfkrieges, fand eine jener überdimensionierten Umzüge statt, die „ticker-tape parade“ heißen, weil Unmengen geschreddertes Papier von den anliegenden Bürohochhäusern auf die Route herabregnen. Der Filmemacher Jem Cohen hat den 6.000 Tonnen schweren Papier-Schneesturm damals mit seiner Super-8-Kamera aufgezeichnet und das Material im Jahr 2000 zu einem sechsminütigen Film montiert, den man derzeit in einer Schau der MoMA-Dependance PS1 in Queens sehen kann.
Die Gruppenausstellung heißt schlicht „September 11“ und fragt nach dem Verhältnis, das die Kunst zum Ereigniskomplex „9/11“ unterhält. PS1-Kurator Peter Eleey hat vor allem Arbeiten versammelt, die sich allein schon deshalb nicht unmittelbar auf den Terror des 11. September beziehen können, weil sie älteren Datums sind. Das World Trade Center stand auch noch, als Jem Cohen seinen Film „Little Flags“ montierte, in dem die Türme mehrfach im Fluchtpunkt der Bilder stehen. Es sind nicht nur elegisch durch die Luft segelnde Papierfetzen und weiß bedeckte Straßen, sondern auch patriotisch hochgepitchte Szenen einer nationalen Selbstvergewisserung, die aus heutiger Sicht an „9/11“ und die Folgen denken lassen. Die stolz auf der „Desert Storm“-Siegesfeier herumgetragenen „FUCK Saddam“-T-Shirts erscheinen als Vorboten des „War on Terror“.
„September 11“ geht es jedoch weniger um politische Kontinuitätslinien als um historisch bedingte Verschiebungen in der Wahrnehmung von Kunst, um die Dehnbarkeit ihrer Resonanzräume in immer neuen Gegenwarten. Das hat natürlich nicht nur mit Ereignisgeschichte zu tun, sondern auch mit kuratorisch vorfabrizierten Rezeptionsrahmen. Jedes Objekt in einer Ausstellung, die sich mit dem 11. September beschäftigt, erhält allein schon durch seine Anwesenheit in ebendieser Ausstellung eine entsprechende Aufladung. Anders formuliert: Es bieten sich Spielräume für kuratorische Beliebigkeiten und kunstakademische Exkurse zur semantischen Flexibilität von Kunst im Allgemeinen.
Im PS1 gibt es Beispiele für beides, etwa William Egglestons „Untitled (Glass in Airplane)“ oder Christos Schnurpacket „Red Package“, und auch für die allgemeine diskursive Tendenz in den USA, „9/11“ als Universalmetapher für „Katastrophe“ zu gebrauchen. Gleichwohl sind auch Arbeiten zu sehen, die nicht als Ereignisdeuter anmoderiert werden, sondern sich auf die mediale Seite des 11. September beziehen lassen, auf Aspekte des televisuellen Loops, der sich weltweit in das kollektive Bildgedächtnis eingetragen hat.
Sarah Charlesworth’ Arbeit „Unidentified Woman, Hotel Corona de Aragon, Madrid“ kann in diesem Sinn auf den medialen „Gegenschuss“ der getroffenen Türme gelesen werden: zu den anfänglich zurückhaltend verbreiteten Aufnahmen jener herabstürzenden Opfer, die sich zum Zeitpunkt des Anschlags vor allem in den Etagen 101 bis 107 des Nordtowers befunden hatten und denen nur noch eine schreckliche Option verblieben war. 1980 fotografierte Charlesworth Bildmaterial aus Boulevardzeitungen ab, das eine Frau zeigt, die sich von einem Gebäude fallen lässt. Die Aufnahme hält den Moment des Fallens fest: Senkrecht steht dieser Körper in der Luft, das hochgewirbelte Kleid verdeckt das Gesicht der Frau, anonymisiert sie und zeugt von der todbringenden Schwerkraft.
In den zahllosen Augenzeugenberichten, die die US-amerikanischen Zeitungen und Zeitschriften in ihren Sonderausgaben der letzten Tage nochmals abgedruckt haben, dominierten auffälligerweise Beschreibungen dieser Fallenden. Manche, die in tieferen Etagen an den Fenstern standen, erinnern sich noch genau an das Gesicht der vorbeirauschenden Opfer, an die Tatsache, dass diese im Stürzen nicht bewusstlos wurden; andere können die Geräusche der in hoher Frequenz aufprallenden Körper nicht vergessen. In der publizistischen Privilegierung dieser Zeugentexte kann man einen Versuch erkennen, das epochale Ereignis ein Stück weit wieder auf die Erfahrung von Individuen zu dimensionieren und „9/11“ als Fanal einer neuen geopolitischen Agenda zurückzunehmen. Die Ausstellung im PS1 schließt an diesen Diskurswechsel an, weil sie ganz offensichtlich in erster Linie darum bemüht ist, eine memorialkulturelle Funktion zu erfüllen. SIMON ROTHÖHLER
■ „September 11“: bis 9. 1. 2012