: Ausgebeinte musikalische Moderne
NEUE MUSIK Zeitkratzer eröffnen im Heimathafen Kontraklang eine neue Reihe für zeitgenössische Musik
VON THOMAS MAUCH
Auch Vorurteile wollen immer wieder mal gehätschelt werden. Dass man es bei der Neuen Musik zum Beispiel nur mit so einem Plingpling zu tun hat und mit saitenhaspelndem Krk. Eine Musik mit gesteigertem Nervfaktor also. Was dann zwischendurch an diesem Abend im Heimathafen Neukölln generös bestätigt wurde. Man hörte Plingpling und auch das Krk. Manchmal hörte man sogar nichts und durfte die Musik dafür mal angucken bei einer Komposition, die den Musikern abverlangte, immer wieder mal die Faust zu recken. Allerlei Geräuschmöglichkeiten wurden durchgespielt. Ein Schmatzen, Schaben, Schnarren, Schnalzen, in unterschiedlichen Kombinationen. Und zum Schluss sammelte sich das alles zu einem rauschhaften und klangmächtigen Sog.
All das passierte am Montag beim Eröffnungskonzert von Kontraklang, einer neuen monatlichen Reihe im Heimathafen, in der man der zeitgenössischen Musik aus Berlin eine Plattform bieten will. Die soll nach dem Willen der Kuratoren dabei breit genug angelegt sein, dass sich darauf die Akteure unterschiedlicher Szenen tummeln können mit den Experimenten der Neuen Musik, der Klangkunst oder dem Musiktheater. So wie man das wenigstens an den Rändern durchaus auch bei den eingeführten Berliner Fachfestivals für Neue Musik wie der MaerzMusik oder dem jetzt am 21. Januar wieder startenden Ultraschall-Festival pflegt.
Ein prinzipiell offener Ansatz, der beim Kontraklang-Eröffnungskonzert gleich mal programmatisch mit Zeitkratzer bezeugt wurde, weil dieses von Reinhold Friedl geleitete Ensemble fast rundum anschlussfähig mit den verschiedensten Experimentalmusiken ist. Mit der Neuen Musik kennt es sich genauso aus wie mit beinharter Improvisation. Es hat sich schon mit wilder Folklore auseinandergesetzt und mit dem lärmenden Feedback-Stück „Metal Machine Music“ von Lou Reed.
Im Heimathafen spielte das Ensemble die ausgebeinte musikalische Moderne von Friedls Stück „Schönberg Pierrot Lunaire Cheap Imitation“, juxig deklamiert. Eine Karikatur des Schönberg-Stücks. Hier hörte man auch viel von dem Plingpling und Krk. Die Komposition „Modulationen“ des Zeitkratzer-Mitglieds Frank Gratkowski schaukelte sich mit sich überlagernden Schleif- und Haltetönen erst konzentriert und schön schwebend in Spannung, um dann, der so geschaffenen klammen Ruhe wohl nicht recht trauend, in eine schnatternde Geschäftigkeit auszubrechen.
Bei „Shifted Objects“, einem Stück von Andrea Neumann, wurden eben die Fäuste gezeigt und daneben die Geräuschmöglichkeiten der Instrumente mit dem Schaben und Schnarren durchaus auch am Schönklang abgemessen. Und bei der „Organic Music“ von Takehisa Kosugi wurde einfach nur eingeatmet und wieder ausgeatmet am Instrument, wobei, um diese elementare Angelegenheit etwas spektakulärer zu gestalten, das Zeitkratzer-Ensemble im Heimathafen mit den Kindern der Bläserklasse der Neuköllner Clay-Schule aufgestockt wurde.
Weil man sich beim Konzert mit Erklärungen zu den Stücken oder überhaupt zum Konzept nicht weiter aufhielt, sei halt hier nachgereicht, dass man diese „Organic Music“ auch so spielen kann, indem man schlicht einen Ballon aufpumpt. So macht das zum Beispiel Kosugi selbst, wie man auf einem Video im Netz mit dem japanischen Fluxuskünstler sehen kann.
In der Neuen Musik aber muss eben gar nicht mehr alles präzise notiert auf Partituren stehen, was man dann einfach so vom Blatt spielt. Karlheinz Stockhausen etwa hat mit „Aus den sieben Tagen“ nur in Texten formulierte Spielanleitungen hinterlassen für eine „intuitive Musik“, wie es der Komponist nannte. Anleitungen, die von den Musikern erst einmal interpretiert werden müssen. Dabei lief das Zeitkratzer-Ensemble dann zum Schluss des Konzerts zur großen Form auf und formte – wieder unterstützt von den Bläsern der Clay-Klasse – Stockhausens Spielanleitung zu „Setz die Segel zur Sonne“ (eine der Textkompositionen von „Aus den sieben Tagen“) zu einem sich stets verdichtenden, sich bis zu einer Gewitterstimmung intensivierendem Drone, der in seinem mächtigen, die Physis und Psyche durchrüttelndem Sog alles Tändelnde, Alberne oder nur halbgar Interessante des Abends einfach wegschwemmte.
So großartig und aufwühlend, wie eben Musik nur sein kann.
■ Nächstes Kontraklang-Konzert ist am 12. Februar im Heimathafen. www.kontraklang.de