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Archiv-Artikel

Eng und schräg

Der Plattenladen „Michelle“ in Hamburgs City hat ein ungewöhnliches Konzept gegen den Bedeutungsverlust gefunden: Er veranstaltet Konzerte ohne Eintritt – im eigenen Schaufenster

Lieber extrem Schräges als brav vorgetragenes Studioliedgut. Obwohl das Publikum auch Letzteres zu schätzen weiß

VON JAN FREITAG

Die Bühne ist eigentlich viel zu eng für fünf ausgewachsene Kerle um die 40. Marcus Wiebusch muss seinen stämmigen Körper schon ganz schmal machen, um seine Bandkollegen nicht herunter zu drängen. Doch die Enge stört den „Kettcar“-Sänger nicht; aus seiner Perspektive ist sie ohnehin Teil einer kleinen Zeitreise. „Hier hab ich meine ersten AC/DC-Platten gekauft“, sagt er in den schwülen Verkaufsraum hinein und weist dorthin, wo zu seinen Punkzeiten nur Vinyl in den Regalen stand. Jetzt sind es vor allem CDs, und Kettcar macht Emodiskursrock.

Als die Musiker loslegen, lächelt der Mann am Schlagzeug gelegentlich über die Schulter nach hinten, durch die riesige Panoramascheibe, ins Freie. Es regnet, doch die Freilichttribüne ist ganz gut gefüllt. Kettcar spielen in einem Schaufenster, und das ist an diesem Ort nicht ungewöhnlich: Seit vielen Jahren veranstaltet Hamburgs ältester Plattenladen „Michelle Records“ dort Konzerte. Dieser Tage wird er stolze 30 Jahre alt, eine hanseatische Institution im Herzen der Innenstadt, ganz ohne Pathos. 150 Quadratmeter Resopalplattenambiente, Blechkastenregalsysteme im Neonröhrengewitter gibt es hier, dazu unprätentiöse Plakatwände auf beige-grauem Grund. Es riecht nach Teppich, Zigaretten und Restbeständen analoger Statik. Aus dem Off läuft Musik vom Kettcar-Label Grand Hotel van Cleef, davor läuft Marcus Wiebusch auf und ab. Wie zuvor schon manch berühmter Musiker.

Ozzy Osbourne, erinnert sich Mitinhaber Christoph Jessen, sei mal durch den Laden geschlurft „und hat irgendeine Folkrockplatte gekauft. In Clocks.“ Der frühere „Pixies“-Sänger Frank Black trug Jahre später Bikerstiefel zur halbakustischen Gitarre. Folkrock hat er selbst gespielt. Plugged, den Rücken zur Straße, wo sich Schaulustige außer Reichweite wähnen und doch beobachtbar sind. Der berühmte Aquariumeffekt: Wer beobachtet wen? Im Innern beobachtet man schon mal 120 Hörlustige, die sich zwischen Unmengen digitaler Tonträger nebeneinander schichten und auf Live-Musik warten. Sie bekommen nicht nur an diesem Tag Popstars für lau.

Um die Jahrtausendwende drohte Michelle, wie so vielen Plattenklitschen, das Aus. Nein, es war im Grunde besiegelt. Allein der Mut dreier Angestellter, Kaufhausketten mit Wohnstubenatmosphäre und Kundennähe die Stirn zu bieten, hielt den kleinen Laden im Wachkoma. Das Rezept: Ankauf aus der Insolvenzmasse, alte Indie-Lastigkeit und eine neue Idee. „In den 80ern haben hier mal die ‚Violent Femmes‘ und ‚Local Hero‘ Bernd Begemann gespielt.“ Konzeptlos, als Zugabe einer Autogrammstunde, erinnert sich Michelle-Inventar Christoph. An einem gewöhnlichen Donnerstagnachmittag ist hörbar, was eine frische Gesangsanlage auf selbst gezimmertem Podest, ein paar Flyer, Newsletter, Anrufe zum Ankochen und ein guter Draht zur Szene so bewirken.

„Wir triezen die Bands, schräge Sachen zu machen“, sagt Christoph. Das passe eher zum Ambiente als geradeaus vorgetragenes Studioliedgut. Während Kettcar genau das bieten, versetzt mit netten Kommentaren ans nachbarschaftliche Publikum, bot Frank Black einst ein Sammelsurium musikalischer Absurditäten. Er schrie, bellte, stöhnte, schmatzte, johlte, und manchmal sang er sogar. Die Stimmung ist dennoch meist andächtig – damals wie heute. So, als gelte es, die geschäftliche Aura des Raums zu wahren. Das Piepen der Alarmanlage erinnert gelegentlich daran, dass der Diebstahlanreiz durch Überfüllung wächst. Hier und da ein Dosenbier, hier und da einer, den nicht das Konzert in die geweihte Halle trieb. „In den USA, Frankreich oder dem Vereinigten Königreich“, sagte Frank Black nach seinem Auftritt, „sind solche Gigs völlig normal.“ In Deutschland kenne er das nur bei Michelle. Backstage, zwischen Bestelllisten und CD-Nachschub wartet ein Catering aus Cookies, Schokoküssen und Astra auf die Bands auf Zwischenstation. Er tut so, als sei solch eine Verköstigung üblich. „Ein bisschen Promotion, ein wenig Spaß, etwas Zeitvertreib.“ Frank Black lächelt. Er ist nicht auf Tour, er gibt nur Autogramme. „Boring shit, you know?“ Die anderen Bands, es waren schon „Calexico“, „Tito & Tarantula“, „Peaches“, „Coco Rosie“ oder „Fink“ da, zieht es zumeist kurz vor der Abendshow in richtigen Hallen noch schnell in die City. Mehr als 50 Mal bislang.

Künstler und Händler setzen in Zeiten, wo weit mehr Rohlinge als Tonträger verkauft werden, auf neue Marketingkonzepte. Einige Plattenläden brennen auf Wunsch CDs, andere tauschen zehn gebrannte gegen ein Original, schließlich haben selbst Drogerien längst Plattenständer. Michelle rockt. Es koppelt rück, ungebremst, wie zum Beweis der Spontaneität. Marcus Wiebusch und Reimer Bustorff, die Familienvatertypen mit Nachwuchsbegleitung sprechen mit dem Publikum, als sei man in der Kneipe. Das Geschäft tankt derweil unablässig Zersetzungswärme aus 200 Achselhöhlen und Kohlendioxid aus halb so vielen Lungen. Atmen ist kaum noch möglich und derzeit auch zweitrangig. An einem Pfeiler hängt das Plakat vom legendären R.E.M.-Konzert vor 21 Jahren im „Knust“, einem längst verflossenen Club, der einst legendär war für seine Engtanzpartys und seine Zelte mittlerweile woanders aufgeschlagen hat.

Eines Tages, da ist Christoph voller Hoffnung, werden die Leute nicht mehr sagen, wir haben U 2 als Teenies in „Onkel Pö’s Carnegie Hall“ gesehen, sie werden von Julia Hummer, „The Jayhawks“, „Absolute Beginner“ oder „Weakerthans“ bei Michelle reden. „Die Großen spielen hier, um uns zu helfen, die Kleinen, um Hilfe zu kriegen“, erklärt Christophs Partner Stefan Wulf das Prinzip. Immerhin bleiben viele noch eine Weile, stöbern, kaufen, so wie die Frank Blacks und Marcus Wiebuschs. Bei den Finnen von „OP:L Bastards“ war gerade mal ein Besucher im Laden, und als „Tomte“ sich unlängst auf dem Gipfel ihres Erfolgs die Ehre gaben, blockierte der Pulk die Straße. Auch R.E.M. wollten schon vorbei schauen. Allein wegen des Plakats am Pfeiler. 1982. Eine Zahl voller Melancholie. Damals dienten Plattenläden noch als ausgewählte Szenetreffs, die Pixies suchten per Annonce einen Bassisten, Hamburger Schule stand für eine Bildungseinrichtung und Schaufenster waren bewegungsfreie Zonen.