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Archiv-Artikel

Der Drang, zu verharren

AFFEKTE Die Philosophie von Baruch de Spinoza wird von den Medienwissenschaften neu entdeckt, wie eine Tagung des ICI zeigte

Die US-amerikanische Philosophin Avital Ronell reflektierte über die Beschwerde

VON TIM CASPAR BOEHME

Geisteswissenschaftliche Tagungen können eine sehr lebendige Erfahrung sein, wenn sie sich als anhaltender Prozess des Denkens in Bewegung erweisen. Im Idealfall wird man von diesem vorwärtsdrängenden geistigen Handeln in einer Weise erfasst, die sich als gemeinsame Freude am Denken bemerkbar macht. Auf der Tagung „Conatus und Lebensnot. Konzepte des Überlebens“, die am Samstag am ICI Berlin zu Ende ging, ergab sich dies beinahe aus der Sache selbst.

An drei Tagen wurde vor allem über einen zentralen Begriff des Philosophen Baruch de Spinoza nachgedacht, den „Conatus“, wie es im lateinischen Original heißt. Spinoza, der im 17. Jahrhundert lebte und als Theoretiker der Affekte berühmt wurde, erfreut sich derzeit einer Renaissance nicht nur in der Philosophie, sondern auch in den Medienwissenschaften. Vor diesem Hintergrund wurde der Begriff des Conatus von den Organisatorinnen, den Medienwissenschaftlerinnen Astrid Deuber-Mankowsky und Anna Tuschling, mit der „Lebensnot“ konfrontiert, wie sie unter anderem in der Psychoanalyse Sigmund Freuds auftaucht.

Spinoza definiert den Conatus in seinem Hauptwerk „Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt“ wie folgt: „Jedes Ding strebt gemäß der ihm eigenen Natur, in seinem Sein zu verharren.“ Die Referentinnen hoben dabei einhellig hervor, dass es Spinoza um weit mehr als einen bloßen Selbsterhaltungstrieb gehe. Wiederholt wurden Parallelen zu Freuds Begriff des Todestriebs gezogen, der auf den ersten Blick das genaue Gegenteil des Conatus zu benennen scheint. Ausgerechnet die französische Philosophin und Psychoanalytikerin Monique David-Ménard wollte allerdings „nichts Gemeinsames“ zwischen Freud und Spinoza erkennen. Zu groß seien die Differenzen zwischen beiden Denkern, insbesondere was den Unterschied von innen und außen betrifft: Während für Spinoza die „Dinge“ – Menschen eingeschlossen – in ihrem Bestreben, im eigenen Sein zu verharren, autonome Einheiten seien, für die Bedrohungen wie der Tod stets von außen kommen, gebe es bei Freud eine viel größere Ambiguität zwischen innen und außen.

Eine Unvereinbarkeit von Freud und Spinoza sah auch die Philosophin Ursula Renz. Zwar seien die Phänomene bei beiden Denkern sehr ähnlich, ihre Theorien jedoch allzu unterschiedlich. Indirekt diente ihr Beitrag der begrifflichen Grundlagenarbeit für die gesamte Tagung, die sich um einen „medienanthropologischen“ Blick auf den Conatus bemühte.

Spinozas Affekttheorie ist für heutige Debatten interessant, da Affekte inzwischen gemessen werden können: Mit Spinoza lasse sich etwa der Affektbegriff in den Neurowissenschaften kritisieren, sagte Astrid Deuber-Mankowsky. Eine weitere Anwendungsmöglichkeit für Spinozas Ansatz sah die Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch in Claude Lanzmanns Film „Der letzte der Ungerechten“ über den Rabbiner und KZ-Überlebenden Benjamin Murmelstein. Als Judenältester im KZ Theresienstadt kooperierte Murmelstein mit den Nazis, mit dem Ziel, möglichst viele Juden zu retten. Murmelsteins umstrittene Haltung sei ein Beispiel dafür, wie der Conatus sich unter stark überlebensfeindlichen Umständen behaupten müsse, sodass er fast zu verschwinden drohe. Zugleich wandte Koch sich damit gegen eine vereinfachende Deutung Spinozas.

Aus noch einmal anderer Perspektive näherte sich die US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin und Philosophin Avital Ronell. Sie reflektierte das Thema der Beschwerde: „Meckering is my mother tongue“, bekannte sie unter Verweis auf ihre Berliner Mutter. Im Unterschied zur Klage, die sich selbst ein Ende setzen wolle, gebe es bei der Beschwerde – wie beim Conatus – den Drang fortzubestehen. Eine direkte Erwiderung kam von Ronells Schüler Nimrod Reitman, Philosoph und Pianist, der über das Verhältnis der Todestrieb-affinen Klage zur Musik sprach und einen Bogen vom Spätrenaissance-Komponisten Claudio Monteverdi über den frühmodernen Spätromantiker Gustav Mahler bis hin zu Freddy Mercurys Klagelied „Bohemian Rhapsody“ schlug.

Auch die übrigen Beteiligten zeigten während der Tagung eine hohe Bereitschaft, aufeinander zu reagieren, einander zu ergänzen oder zu kritisieren. Bewusst oder unbewusst wurden so jede Menge positive Affekte freigesetzt – ganz im Sinne Spinozas.