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Archiv-Artikel

Was uns im Innersten zusammenhält

BINDEGEWEBE Sie ermöglichen Hechtsprünge und weite Würfe und helfen dabei, die Balance zu halten: Faszien vernetzen den Körper. Doch sie können verkleben und so Schmerzen auslösen. Eine spezielle Therapie soll helfen, das zu verhindern

Das Rolfing erinnert auf den ersten Blick an eine klassische Massage

VON SARAH MAHLBERG

Marc Kirschstein greift in seinen Schrank und fördert einen Tennisball zutage. Dieser wird jedoch keinesfalls im nächsten Schritt über ein hüfthoch gespanntes Netz geschmettert. Vielmehr dient er einer Übung für die sogenannte Plantarfaszie, die sich unter der Fußsohle befindet. Der Tennisball wird unter dem Fuß platziert und durch ganz langsame Bewegungen hin- und hergerollt. „Durch vorsichtige Gewichtsverlagerung stimuliert man immer einen anderen Bereich und löst Verklebungen der Faszie“, erklärt Kirschstein den Sinn der Übung.

Verbindendes Element

Kirschstein ist Heilpraktiker und hat sich in seiner Hamburger Praxis auf Faszien spezialisiert; auf das weiße Bindegewebe also, welches letztlich alle Organe, Knochen und Muskeln umschließt und miteinander verknüpft. Die Faszien bestehen größtenteils aus Wasser, Zucker und Eiweiß. Ihre Hauptaufgabe ist es, die einzelnen Körperteile zu einem geschlossenen Bewegungsapparat zusammenzuführen. Darüber hinaus sind sie sehr elastisch, können sich aktiv an- und entspannen. Sie funktionieren auf diese Weise ganz ähnlich wie eine Steinschleuder, geben den aus einer Bewegung gewonnenen Schwung an die Muskulatur weiter und sorgen so dafür, dass mit weniger Kraftanstrengung größere Leistungen erzielt werden können. Nebenher speichern Faszien noch Wasser und geben es an die Organe und Zellen weiter.

Problematisch kann es dann werden, wenn diese Gewebefasern aufgrund von einer Überforderung etwa durch konsequente Fehlbelastung zu wuchern beginnen. Schon ein falsch eingestellter Schreibtischstuhl kann so eine Fehlbelastung hervorrufen. Die Faszien können verfilzen und einen sprichwörtlichen Klumpen bilden, ähnlich dem, was man als unbegabter Häkler so zustande bringt. Dieser Faszien-Klumpen kann dem dazugehörigen Körperareal die Fähigkeit nehmen, sich flüssig zu bewegen. Es wird steif und lässt sich nur noch bedingt oder gar nicht mehr bewegen. Diese Faszien-Verdichtung kann also dazu führen, dass sich die angewöhnte Fehlhaltung verfestigt, was wiederum starke Schmerzen verursachen kann.

Verklebte Faszien stehen im Verdacht, nicht nur Schmerzen zu verursachen, sondern auch die Heilungschancen einer Krebserkrankung zu schmälern. „Die Verfilzung hindert sowohl das Immunsystem, als auch die Chemotherapie, das Geschwür zu erreichen, welches sich seinerseits kontinuierlich ausbreitet“, erklärt Robert Schleip, Psychologe und Faszien-Forscher am Universitätsklinikum Ulm. So entstehe ein Innendruck auf die steifen Faszien, wodurch die Temperatur in ungünstigem Maße ansteigen und dem Karzinom einen weiteren Vorteil bieten könne, so jedenfalls Schleips Theorie, die noch nicht durch ausreichende Studien untermauert ist. Es gelte also, bereits entstandene Verklebungen der Faszien rasch wieder zu lösen. Eine mögliche Methode hierfür ist das sogenannte „Rolfing“.

Das Rolfing erinnert auf den ersten Blick an eine klassische Massage. Die meiste Zeit der Sitzung liegt der Patient auf einer Behandlungsliege und der Rolfer übt mit Fingerknöcheln, Fingern und Ellenbogen Druckbewegungen auf bestimmte Bindegewebszüge aus. Während es bei einer Massage aber darum geht, sich zu entspannen und eine bessere Durchblutung zu erzielen, steht beim Rolfing die Körperhaltung im Vordergrund. Grundannahme hierbei ist, dass ein Körper eine natürliche, von der Schwerkraft unterstützte Grundhaltung einnehmen kann. Verändere er diese Haltung und „gerate aus dem Lot“, wie Kirschstein sagt, bedeute das für den Körper große Anstrengung und Anspannung. Auf lange Sicht werde durch eine Fehlhaltung die Vitalität geschwächt, erläutert Kirschstein, der seit 2006 diese Behandlung anbietet.

In der ersten von in der Regel zehn Sitzungen begutachtet Kirschstein zunächst das Atemmuster des Patienten und beginnt dann, die Faszien-Strukturen, die das Atemsystem umgeben, durch massageartige Bewegungen zu lösen. Das soll zu einer tieferen und freieren Atmung führen. „Die Körperhaltung wird dadurch ebenfalls beeinflusst“, sagt er. Eine Rolfing-Sitzung dauert etwa eine Stunde. Die Kosten, die in der Regel zwischen 75 und 90 Euro pro Stunde liegen, muss der Patient selbst tragen. Die Krankenkassen übernehmen die Kosten nicht, da die Wirksamkeit der Rolfing-Methode bislang noch nicht ausreichend mit Studien nachgewiesen wurde. Bisher existieren ausschließlich Erfahrungswerte.

Bundesweit erste Studie

„In geschätzt 80 Prozent der Fälle sind am Ende Behandelnder und Behandelter mit dem Ergebnis zufrieden“, sagt Robert Schleip, der selbst praktizierender Rolfer war bevor er in das Forschungsprojekt am Universitätsklinikum Ulm einstieg. Derzeit führt er dort die bundesweit erste Normwertstudie zur Dicke und Elastizität von Faszien durch, wofür 300 Probanden untersucht werden. Neben der Plantarfaszie unterm Fuß, die Kirschstein gern mit der Tennisball-Übung behandelt, werden auch die lange Lumbalfaszie des Rückens sowie weitere Gewebestrukturen vermessen. Es geht darum, Standardwerte zu bestimmen, um so Regelmäßigkeiten und Abweichungen erkennen zu können. Schleip erhofft sich, dass mittels der Studienergebnisse künftig schneller erkannt werden kann, ob eine fasziale Therapie wie das Rolfing Sinn haben kann.

Im Rahmen der Studie wird ein Gerät erprobt, das Myraton Pro, mit dem die Faszien in ihrer Steifigkeit untersucht werden können. Es könnte eine Alternative zur vergleichsweise teuren Ultraschallbehandlung darstellen. Physiotherapeuten könnten dann ihren Tastergebnissen eine quantitative Messung gegenüberstellen und der Gesundheitszustand des Patienten wäre leichter zu verfolgen. Vielleicht, so Schleips Hoffnung, falle Rolfing dann auch in den Bereich kassenärztlicher Leistungen. Dafür braucht es aber stichhaltige Beweise, dass es tatsächlich etwas bewirkt. Für Schleip ist das nur eine Frage der Zeit: „In drei Jahren kann es soweit sein.“