: Warten auf das Geisterschiff
Schaadi raucht Kette, Wassim schlürft Tee. Wie sie hoffen in Mersin 150.000 Syrer auf eine Passage nach Europa. Für sie ist es ein Lichtblick, für andere ein Millionengeschäft
EIN SCHLEPPER
AUS MERSIN STEFANO LIBERTI
Schaadi raucht und wartet. Im Foyer des Hotels, das zu seiner zweiten Heimat geworden ist, steckt er sich eine Zigarette nach der anderen an und schaut nervös aufs Handy, wartet auf den entscheidenden Anruf. „Ich hab gehört, dass morgen ein Schiff fahren soll“, sagt er, die Stimme halb hoffnungsvoll, halb resigniert. Der Buchhalter aus Damaskus mit dem erloschenen Lächeln ist vor ein paar Tagen 34 Jahre alt geworden und er hat den Schleusern schon 6.000 Dollar gezahlt, für eine Passage nach Italien – und „von dort nach Deutschland, da werde ich Asyl erhalten und meine Familie nachholen“.
Schaadi ist einer von denen, die eine Passage auf dem nächsten „Geisterfrachter“ Richtung Italien gebucht haben. Die bevorstehende Abfahrt ist ein offenes Geheimnis hier in Mersin, der südtürkischen Hafenstadt, die für die Syrer, die vor dem Krieg geflüchtet sind, zum Tor nach Europa geworden ist. In den Kebab-Restaurants, in den etwas heruntergekommenen Hotels beim Busbahnhof, in den Cafés an der Strandpromenade, in denen man mittlerweile mehr Arabisch als Türkisch hört – alle sagen es hinter vorgehaltener Hand: Ein etwa 100 Meter langes Schiff stehe schon zur Abfahrt bereit und warte bloß auf besseres Wetter.
In diesem kleinen Viertel, das sich faktisch in einen Transitbereich verwandelt hat, trifft man viele Menschen. Sie sind einfach da, sie hängen rum, sie warten auf nichts anderes als den Anruf und dann die Abfahrt. Vor allem Männer sind es, aber auch reichlich Frauen und Kinder, bisweilen ganze Familien. Nicht die Habenichtse, die man in den Flüchtlingslagern jenseits der Grenze trifft, sondern die Mittelklasse prägt hier das Bild – Akademiker, Händler, Handwerker.
6.500 Dollar für einen Platz
Sie haben Häuser, Autos, Schmuck verkauft, um das Geld zusammenzukratzen, das für die Reise nach Italien fällig ist, der Preis liegt zwischen 5.500 und 6.500 Dollar, je nach Vermittler und Verhandlungsgeschick. Die Fahrt nach Deutschland, Holland oder Dänemark kostet extra.
Zum Beispiel Kamil, 16 Jahre alt, Bartflaum und ein schüchternes Gesicht, das in merkwürdigem Kontrast steht zu dem Unternehmen, zu dem er sich anschickt. Nach Mersin ist er mit seinem Vater gekommen, doch abfahren soll er allein. Der Vater wird zur Frau und den anderen Kindern zurückkehren. Die beiden verzehren ihr letztes gemeinsames Mittagessen. Vater Ahmed hat alles Nötige geregelt, er hat den Vermittler bezahlt und ist dabei, sich auf die Rückreise zu machen. Er umarmt Kamil und sagt, als wolle er sich selbst überzeugen, dass es richtig ist, einen Minderjährigen an Bord eines illegalen Frachters zu schicken, mit lauter Stimme: „Er hatte keine Zukunft in Syrien, seine einzige Chance ist Europa. Und der einzige Weg dorthin ist das Schiff.“
Kamil nickt, gibt sich optimistisch, doch man sieht ihm die Angst an, die ihm den Magen zusammenschnürt. „Alles wird gut“, versichert der Vater. Dann fragt er, warum die ganze Welt den Syrern die Tür zuschlägt. „Sogar der Libanon verlangt jetzt ein Visum für die Einreise. Die Türkei ist das einzige Land, das uns noch aufnimmt.“ Etwa 1,8 Millionen syrische Flüchtlinge leben mittlerweile in der Türkei, und allein in Mersin sind es nach Schätzungen aus dem Rathaus 150.000. Wenigstens tausend von ihnen sollen bereit sein, an Bord des nächsten abfahrenden Schiffs zu gehen.
Die neue Türkei-Italien-Route ist im letzten Herbst entstanden, auch weil Italien die humanitäre Mare-nostrum-Mission erst reduziert, dann komplett eingestellt hat. Der erste Frachter aus der Türkei traf am 28. September 2014 in Italien ein. Seitdem kamen zwölf weitere Schiffe mit insgesamt etwa 6.500 Flüchtlingen. Das letzte, die „Ezadeen“, wurde in der Nacht vom 2. auf den 3. Januar in den Hafen Corigliano Calabro geleitet.
Das Vorgehen ist immer gleich: Die Schleuser kaufen billig schrottreife Frachter, stopfen sie mit Passagieren voll und schicken sie – bei einkalkuliertem „Totalverlust“ des Schiffs – Richtung Italien. Nach fünf, sechs Tagen schaltet die Besatzung den Autopiloten ein, setzt einen Hilferuf ab und verdrückt sich. Dann greifen italienische Hilfseinheiten ein und bugsieren das Schiff in den nächsten Hafen.
Am 31. Dezember 2014 hätte ein verspätet abgesetzter Hilferuf beinahe zu einer Tragödie geführt, als die „Blue Sky M“ bloß fünf Seemeilen vor der Küste Apuliens führerlos aufgebracht und dann mit ihren 970 Passagieren, die meisten Syrer, in den Hafen Gallipoli gebracht wurde.
In den sozialen Netzen wird für die Reisen geworben – mit Tarifen, Informationen und den Mobilnummern der Vermittler. Die Annoncen sind unmissverständlich: „Schiff mit Länge von 75–120 Meter, Abfahrt Richtung Italien, ohne Pass und Visum“. „Wir organisieren eine Reise von Mersin aus“, sagt am Telefon ein Schlepper, der behauptet, derzeit in Istanbul zu sein. „Alles ist sicher. Decken, Essen, die Unterbringung in den Hotels bis zum Abfahrtstag, alles geht auf unsere Kosten. Das ist so wie bei einer Kreuzfahrt.“
Die Telefonnummern sind unverschlüsselt, die Mittelsmänner agieren so, als arbeiteten sie für ein normales Reisebüro. Etwa 15 sollen es sein, allesamt über die Türkei verstreute Syrer, angeblich bekommen sie eine Vermittlungsgebühr von 500 Dollar pro Passagier. Der Profit, der für die Chefs anfällt, ist immens. Die Rechnung ist einfach: Bei 6.000 Dollar für jeden der 970 Passagiere hat ein Schiff wie die „Blue Sky M“ fast sechs Millionen Dollar eingebracht. Und auch wenn man die Kosten für das Schiff, für die Mittelsmänner und für die Crew abzieht, bleibt eine gewaltige Summe.
Die neue Reiseroute hat beste Chancen, in naher Zukunft weiter zu expandieren. Ein anderer Vermittler, der seine Leistungen auf Facebook anpreist, verkauft Tickets für „eine Yacht, Abfahrt von der türkischen Küste, die euch direkt zu einem italienischen Strand bringt, 40 Plätze, Preis 6.000 Dollar. Reduzierte Tarife für Kinder und Alte“. Am Telefon teilt der Mann mit, dass „das Boot von Istanbul, von Izmir oder Antalya abfahren könnte. Das wird kurz vorher mitgeteilt.“ Außerdem hat er Plätze auf einem anderen Schiff, das „für nur 7.000 Dollar die Passagiere in Tripolis im Libanon an Bord nimmt“.
Die Probleme auf der Libyenroute – sie wird immer gefährlicher wegen der Situation im Land und des schlechten Wetters im Winter – haben dazu geführt, dass die Ostmittelmeerroute wichtiger geworden ist. Und die Einstellung der italienischen Mare-nostrum-Mission, deren Schiffe bis Ende 2014 auch bis unmittelbar vor die libysche Küste fuhren, um Booten in Seenot zu helfen, hat diesen Effekt verstärkt. Die Syrer sind zudem bereit, wesentlich mehr zu zahlen, nicht zuletzt um sich so eine höhere Sicherheit auf der Reise zu erkaufen.
Es ist wie Money-Transfer
Die Zahlung erfolgt in einem Büro, das nur zwei Schritte von der Meerespromenade entfernt ist. Es kostet Mühe, das Büro zu finden – es gibt keinen Hinweis, kein Schild an der Tür. Aber man muss sich bloß auf der Straße umhören. Kaum fragt man auf Arabisch, wissen alle Bescheid. Eine Tür im ersten Stock eines anonymen Gebäudes, zwei einfach eingerichtete Zimmer, und man ist am Ticketschalter für die klandestinen Reisen.
Es ist wie bei einem informellen Money-Transfer-Dienstleister. Sie sammeln das Geld ein, sie legen es ins Depot und sie geben dem Einzahler einen Nummern-Code. Einmal nach Italien gelangt, ruft der Flüchtling dann die Schleuser an und teilt ihnen den Code mit. Gezahlt wird also bei Ankunft – gleichsam mit Geld-zurück-Garantie, wenn die Reise scheitert.
In Mersin werden die Passagiere nachts auf Boote geladen und zum Frachter gebracht, in dessen Bauch sie die Reise verbringen. „Sie bringen dich mit dem Auto zu einem Ort etwa 50 Kilometer von der Stadt entfernt. Dann machen die Leute einen Fußmarsch von etwa einer Stunde durch einen Wald, bis zum Strand, wo 20 bis 30 Meter lange Boote warten“, erzählt Wassim.
Der 27-Jährige war früher einmal Uhrmacher. Er floh aus Syrien, nachdem er mehrere Monate in den Gefängnissen Baschar al-Assads verbracht hatte, da er es abgelehnt hatte, in den Kampf zu ziehen. Nachdem er auf allen erdenklichen Wegen versucht hatte, ein Visum für Europa zu bekommen, ließ er seine schwangere Frau in Damaskus zurück, kam nach Mersin und kontaktierte die Schleuser. Ein Freund, der auf der „Blue Sky M“ war, hatte ihm den Kontakt zu einem „vertrauenswürdigen Vermittler“ verschafft und ihm erzählt, wie die Reise verläuft. „Auf den kleinen Booten schiffen sie jedes Mal etwa 50 Leute ein“, erklärt Wassim. „Ich bin jetzt seit zwölf Tagen in Mersin und kann es kaum erwarten, endlich abzureisen.“
Neben ihm schüttelt Schaadi, der Buchhalter, den Kopf. Seit nunmehr drei Wochen lebt er in ewigem Warten, verbringt immer gleiche, leere, aufreibende Tage, und die Anspannung findet ihr Ventil bloß in fatalistischem Nichtstun. Während die beiden am Tisch beim hundertsten Tee weiterdiskutieren, kommt ein vielleicht dreijähriger Knirps heran und ruft laut: „Ich will das Schiff nehmen und nach Deutschland reisen!“
„Er wiederholt bloß, was er hier seit Tagen hört“, sagen die beiden, während sie kräftig lachen. So wird es sein: Auch der kleine Junge wird auf einen Frachter steigen, und wenn alles gut geht, wird er sich noch in Jahren an Mersin, die Durchgangsstadt, und an die Reise übers Meer erinnern, einem neuen Leben entgegen, fern von seinem Land, fern von einem Krieg, der ausbrach, als er noch nicht einmal geboren war.
Aus dem Italienischen von Michael Braun