piwik no script img

Archiv-Artikel

Weder Staat noch Nation

ENGAGIERTE PHILOSOPHIE Simone Weils nachgelassenes Werk „Die Verwurzelung“ erscheint in neuer deutscher Übersetzung

Philosophische Texte sollten sich in der Regel unabhängig von der Lebenssituation, in der sie entstanden sind, erschließen. Bei „Die Verwurzelung“, dem letztem Werk der französischen Philosophin Simone Weil, lässt sich eventuell eine Ausnahme machen. Denn das „Vorspiel zu einer Erklärung der Pflichten dem Menschen gegenüber“, so der ursprüngliche Titel, der für die postume Veröffentlichung als Untertitel übernommen wurde, gibt in seinem unfertigen Charakter einiges über die extremen Umstände preis, unter denen es geschrieben wurde.

Simone Weil, die als Jüdin 1942 aus Frankreich nach England geflohen war, lebte in den letzten Monaten ihres Lebens in London, wo sie vorübergehend Mitglied des Befreiungskomitees Charles de Gaulles war. Während dieser Zeit infizierte sie sich mit Tuberkulose und erlag im August 1943 – mit 34 Jahren – ihrer Krankheit. Für die Arbeit an „Die Verwurzelung“ blieben ihr gerade einmal fünf Monate. 1949 gab Albert Camus das Fragment als Buch heraus, fünf Jahre später erschien bei Kösel eine längst vergriffene, erste deutsche Übersetzung. Der Verlag Diaphanes hat jetzt eine elegante Neuübersetzung vorgelegt.

Mit der Ankündigung einer „Erklärung der Pflichten dem Menschen gegenüber“ weckt das Buch hohe Erwartungen, man rechnet mit fundamentalen Bestimmungen zur Ethik, und in seinem ersten Teil versucht Weil zunächst auch, die „Bedürfnisse der Seele“ in einer Übersicht darzustellen. Grundlegend neue Einsichten zu „Freiheit“, „Verantwortung“ oder „Sicherheit“ finden sich darin allerdings kaum. Interessanter sind die im Text verstreuten aphoristischen Spitzen wie im Abschnitt zu „Meinungsfreiheit“, wo sie über die Gedankenfreiheit trocken anmerkt: „Wenn es keine Gedanken gibt, sind sie auch nicht frei.“

In den zentralen Stücken des Buch zu „Entwurzelung“ und „Verwurzelung“ gibt Weil das Prinzip einer Unterteilung des Texts nach und nach auf. Was wie eine Abhandlung beginnt, nimmt mehr und mehr die Form eines ausgedehnten Essays an, in dem Zeitdiagnose und historischen Referenzen aus der Geschichte Frankreichs oder der Antike nebeneinanderstehen. Theoretisch springt Weil von abstrakten begrifflichen Überlegungen über die Verkündigung christlich geprägter Botschaften bis hin zu konkreten politökonomischen Empfehlungen. Den eigentlichen Gegenstand des Buchs, die „Verwurzelung“, bekommt man nur schwer in den Griff. Von Weil als das „wichtigste und am meisten verkannte Bedürfnis der menschlichen Seele“ bezeichnet, geht es ihr um die Bestimmung einer Teilhabe am „Dasein eines Gemeinwesens“, wobei sie unter einer solchen Organisationsform weder Staat noch Nation versteht. Letztere hätten vielmehr zur Entwurzelung insbesondere der Franzosen beigetragen.

Doch sieht Weil ebenso gut die Schwierigkeiten bei ihrem Vorhaben, einem Volk, d. h. dem französischen, eine neue „Inspiration einzuhauchen“. Auf die Frage, wie sich Frankreich als Gemeinwesen neu bestimmen kann, gibt sie weniger eine Antwort, als dass sie darauf drängt, öffentliche Aktionen zu entwickeln, die diesem Ziel dienen. Oft schreibt sie deutlich erkennbar aus ihrer unmittelbaren Erfahrung heraus, wenn sie sich etwa direkt an die Franzosen in London wendet und ihnen empfiehlt, freundschaftliche Beziehungen zur Elite Englands aufzunehmen.

Als Extrembeispiel für die Gegenbewegung, die Entwurzelung, kommt Weil immer wieder auf Hitler zurück, der mit den Massendeportationen der Juden die „höchste Stufe an Entwurzelung“ erreicht habe. Und wie sie in einer Nebenbetrachtung anmerkt, sei der Wunsch, Hitler zu bestrafen, im Grunde aussichtslos: Sein Ziel, in die Geschichte einzugehen, habe er schließlich erreicht. Es sei denn, und hier kündigt sich die tatsächliche Stärke der „Verwurzelung“ an, man würde den Begriff der Größe neu bestimmen. Dazu ist es bei Weil nicht mehr gekommen. TIM CASPAR BOEHME

Simone Weil: „Die Verwurzelung. Vorspiel zu einer Erklärung der Pflichten dem Menschen gegenüber“. Diaphanes, Zürich 2011, 288 Seiten, 24,90 Euro