Sprich, Erinnerung, sprich

BRUCHSTÜCKE Lassen wir die Wichtigheimer-Welt doch einmal draußen: Joe Brainards Subkultur-Klassiker „Ich erinnere mich“ liegt endlich in deutscher Übersetzung vor

VON FRANK SCHÄFER

Joe Brainard kam als nicht mal zwanzigjähriges Underground-Talent Anfang der Sechziger in die Lower East Side von Manhattan, schloss sich den jungen Wilden an und war Ende der Dekade bereits ein etablierter Pop-Art-Künstler. Als Autor von ziemlich witzigen Comic-Strips, von zupackend alltagssprachlichen, ironischen, scheinbar unartifiziellen Gedichten und Kurzprosastücken kannte ihn immerhin die Szene. Sein literarischer Durchbruch gelang ihm dann 1970 mit der ersten Ausgabe von „I Remember“, einem Buch, das nun, blamable vier Jahrzehnte zu spät, erstmals auf Deutsch erscheint.

„Ich erinnere mich“ ist die Manifestation einer Methode, die so suggestiv ist, dass sie mittlerweile zum Standard-Repertoire von Creative-Writing-Seminaren gehört und immer wieder auch literarisch ebenbürtige Nachahmer fand. George Perecs „Je me souviens“ und Uli Beckers „Alles kurz und klein“ sind wohl die bekanntesten Beispiele.

„Ich erinnere mich“ – so beginnt jeder neue Absatz, aber diese serielle Phrase überliest man bald, weil sie immer nur die Lunte ist für das Erinnerungsfeuerwerk, das damit abgebrannt wird. Zum einen haben wir hier also ein formal ziemlich strenges Ordnungsprinzip, das aber inhaltlich ziemliche Freiheiten offeriert. Die Anordnung dieser – ja, was eigentlich? – Reminiszenzen, Aphorismen, Kürzestgeschichten, Illuminationen, Aufzählungen etc. gehorcht denn auch weder der Chronologie noch einem wie auch immer gearteten thematischen Gesichtspunkt. Sie ist schlicht chaotisch oder besser assoziativ, denn oft findet man durchaus noch das Tertium comparationis zwischen den einzelnen Bruchstücken. Manchmal aber auch nicht. Und dieser Wechsel zwischen harten collageartigen Kontrasten und einer entspannten Stringenz macht zum einen den Reiz dieser Streuprosa aus.

Mit zwei oder drei „Ich erinnere mich“-Steps katapultiert sich Brainards entzündete Fantasie durch Raum und Zeit, von einer frühkindlichen Tagträumerei hin zu einem noch ganz frischen Erlebnis in der New Yorker Schwulenszene – und wieder retour. Man kann hier einem individuellen Gedächtnis bei der Arbeit zusehen:

„Ich erinnere mich, dass ich nicht verstand, warum Aschenputtel nicht einfach ihre Siebensachen zusammenpackte und abhaute, wenn alles so schlimm war.

Ich erinnere mich, dass eine Autotür zugeschlagen wurde, in der mein Finger steckte, und dass es ewig dauerte, bis der Schmerz sich einstellte.

Ich erinnere mich, dass man Steine, die man draußen gesammelt hat, drinnen ratlos betrachtet.

Ich erinnere mich an die Geschichte eines Jungen, der eine tote Fliege in seiner Cola fand und von Coca Cola kostenlos einen Kasten Colaflaschen bekam.

Ich erinnere mich, dass ich dachte, man müsse ja nur eine tote Fliege in seine Cola tun, um kostenlos zu einem Kasten Coca Cola zu kommen, und ich erinnere mich, dass ich mich wunderte, warum nicht mehr Leute auf die Idee kamen.“

Das Banale steht neben dem Epiphanischen, und im Idealfall fällt beides auch mal zusammen. Gerade durch die Kleinteiligkeit der Erinnerungen, die er dafür in großer Menge kompiliert (in dieser Auswahlausgabe etwa 1.500), bekommt der Leser einen filigranen Abdruck vom Profil eines aufgeweckten, künstlerisch begabten Jungen aus der Provinz (Tulsa, Oklahoma), der seine Homosexualität zu entdecken beginnt und mit seinen Künstlerfreunden nach New York geht.

Die Suggestionskraft dieses Buches ist dadurch noch nicht erklärt. Brainard selbst aber hat das Potenzial sofort erkannt. Er ist fasziniert von der Idee, sich ganz hineinzuschreiben in dieses Buch, so als wäre alles, wirklich alles von Belang. Und zugleich erkennt er, dass gerade aus dieser totalen Subjektivität eine enorme Anschlussfähigkeit erwächst. Der Leser erkennt sich nämlich ständig wieder und gleicht seine eigenen Erinnerungen mit denen des Autors ab.

Das ist auch notwendig. Der Leser wird durch die Lücken dieser fragmentarischen Memoiren nachgerade zur Mitarbeit aufgefordert. Der Text lässt Raum, der mit den eigenen Erfahrungskontexten ausgepolstert werden muss. „Ich erinnere mich“ wirkt aber auch deshalb so sanft und liebenswert, weil die Wichtigheimer-Welt hier einmal draußen bleibt, das Politische wirklich nur im ganz Privaten und damit auch Konkreten aufscheint. „Ich erinnere mich, dass ‚Schwarze, die in großen chromblitzenden Cadillacs herumfahren, gewöhnlich in heruntergekommenen Baracken wohnen‘.“

Joe Brainard: „Ich erinnere mich“. Aus dem Amerikanischen von Uta Goridis. Walde + Graf, Zürich 2011, 208 Seiten, 14,95 Euro