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Archiv-Artikel

Blindheit des Herzens

Das Repertoire komplexer Frauenfiguren in der deutschen Literatur erhält Zuwachs: Julia Franck gelingt es, zu erzählen, wie eine willensstarke junge Frau zur apathischen Mutter wird – „Die Mittagsfrau“

VON ANTJE KORSMEIER

Geheimnisvolle Frauenfiguren – das ist so ein klassischer Topos der westlichen Kultur. Verdi mit „La Traviata“, Flaubert mit seiner „Madame Bovary“, Freud mit seiner Metapher von der Frau als „unbekanntem Kontinent“, alle fragten sie nach dem Abgründigen des Weiblichen. Bei einer Prostituierten oder einer Ehebrecherin mag das in gewisser Weise naheliegen – schließlich handelt es sich um gesellschaftliche Außenseiterrollen par excellence. Dieselbe Thematik entlang einer Mutterfigur zu erarbeiten ist ungewöhnlich. Genau das macht nun Julia Franck in ihrem neuen Roman, „Die Mittagsfrau“.

Dabei gelingt es der 1970 geborenen Schriftstellerin tatsächlich, jene grausame Szene plausibel zu machen, mit der der Prolog anhebt: Eine Mutter setzt nach Ende des Zweiten Weltkriegs ihren siebenjährigen Sohn auf einem Bahnhof in Pommern aus und verschwindet. Wer die Frau ist, die es über sich bringt, so etwas zu tun, erzählt der Roman in einer langen Rückblende, die kreisförmig bis zum Romanbeginn aufschließt.

Am Anfang geht alles recht normal zu. Helene verlebt eine glückliche Kindheit in der Lausitz, auch wenn sie zuweilen unter der Gefühlskälte der geistig verwirrten Mutter leidet. Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Tod des Vaters gehen sie und ihre ältere Schwester Martha als Krankenschwestern nach Berlin. Martha lebt ihre Leidenschaft für die Jugendfreundin Leontine aus, Helene begegnet in dem sensiblen Philosophiestudenten Carl ihrer großen Liebe. Das könnte der Stoff eines flauschigen Mädchenromans sein, mit Aufbruch in die große, weite Welt und was fürs Herz, nicht zu vergessen der Nationalsozialismus als fast schon behaglich-bedrohlicher Hintergrundfolie.

Interessant wird die Sache aber dadurch, dass Franck immer wieder dicht an die Empfindungen und Wahrnehmungen ihrer Protagonistin herangeht – etwa bei Helenes Blick auf den mit Maden übersäten Beinstumpf des sterbenden Vaters oder in ihrer Beziehung zu Martha, in der aus Gesten der Vertrautheit und Geborgenheit erste sexuelle Erfahrungen werden. Als Helene und Carl sich vorsichtig kennenlernen, wird anschaulich, wie das Erkunden des Geliebten mit einem Ausprobieren ihrer selbst einhergeht. Hier ist Helene eine willensstarke junge Frau, die das Nachtleben im Berlin der Zwanzigerjahre erobert, begeistert über Literatur diskutiert und ihre Zukunft plant.

Doch dann verschiebt sich der Blickwinkel. Denn Carl stirbt bei einem Unfall, und Helene findet aus der Trauer nicht richtig in ihr eigenes Leben zurück. Aus Gleichgültigkeit, aus Notwendigkeit geht sie Jahre später in Stettin eine unglückliche Ehe mit dem Nazi-affinen Ingenieur Wilhelm ein, sie bekommen ein Kind. Da Helene sich selbst kaum mehr wahrnimmt, rückt sie nun auch für den Leser wie in weite Ferne; mit sparsamer, nüchterner Sprache skizziert Julia Franck um sie herum ein Klima der Zurückgezogenheit und radikalen Vereinzelung. Die eiserne Disziplin, mit der Helene ihren Alltag als Krankenschwester, Ehefrau und Mutter aufrechterhält, kann sie nicht vor bodenloser Apathie schützen. Schweigend erträgt Helene die perfiden, zunehmend antisemitischen Demütigungen ihres Ehemanns; es ist, als habe sie die gleiche „Herzensblindheit“ erfasst, an der ihre Mutter litt. In einer Art Wiederholungszwang behandelt sie ihren Sohn Peter mit der gleichen Kälte, der sich umso fester an sie klammert.

Nähe und Distanz, zu sich selbst und zu anderen Menschen, sind die Kernprobleme der Hauptfigur. Beeindruckend ist, wie Julia Franck diesen Aspekt im Rahmen einer Erzählperspektive der dritten Person handhabt und das Selbstverhältnis der Protagonistin mit der Identifikation des Lesers parallel führt. Das wird durch die kreisförmige Erzählstruktur unterstrichen. So enthält der Übergang vom Prolog zum Hauptteil einen Perspektivwechsel und einen Zeitsprung. Da Helenes halbjüdische Herkunft einen Namenswechsel zur Folge hat, macht der Wechsel von Peter zu Helene die Kontinuität des Romanpersonals für einen Moment auf reizvolle Weise undurchsichtig.

Später steigert diese Struktur die tragische Entwicklung Helenes nochmals: Aus Peters Perspektive erfährt der Leser im Prolog, dass Helene kurz vor der Flucht aus Stettin von russischen Soldaten mehrfach vergewaltigt wurde. In Helenes eigener Wahrnehmung sind diese Vorfälle hingegen keiner Erwähnung wert, es gibt keinen Raum mehr für Gefühle.

All das ist so gekonnt durchgeführt, dass die Autorin an einigen Stellen auf Details hätte verzichten können, die in ihrer Wiederholung vor allem effektheischend wirken – eine lesbische Zärtlichkeit hier, eine unerwartete Erektion da, und dort noch gefährlicherer Kokaingenuss. Das wäre nicht mehr nötig gewesen, der Roman bezieht mehr als genug Spannung aus anderen Quellen. Auch die abstrakten Dialoge, in denen Carl und Leontine über Gott und Moral diskutieren, klingen etwas aufgesetzt. Denn eine mitlaufende zweite Ebene bietet dieses Buch nicht, trotz einer Reihe von Bezügen auf Gott und die Philosophie. Das tut der Qualität des Romans, der nun auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis steht, im Ganzen aber keinen Abbruch.

Auch wenn Julia Franck die Nebenfiguren zum Teil etwas plakativ geraten sind, die breite Schilderung der Gefühle ihrer Hauptfigur ist beeindruckend. Und das Repertoire der komplexen Frauenfiguren in der Literatur hat Zuwachs erhalten.

Julia Franck: „Die Mittagsfrau“. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2007, 430 Seiten, 19,90 Euro