: Lotte? Wo bist du?
Das Hühnerbarometer. Über den Versuch, eines von neun Milliarden Eiern zu verfolgen
VON STEFAN KUZMANY
Zunächst einige Fakten. Im Jahr 2005 lebten in Deutschland zweiunddreißig Millionen und zweihundertfünfundsechzigtausend Hühner, gemeinsam haben sie neun Milliarden und zweihundertzweiundsechzig Millionen Eier produziert.
Sollten Sie diese Geschichte im Jahr 2048 aus dem Archiv ziehen, dann entspricht das genau der Anzahl der dann auf der Erde lebenden Menschen. Die im Jahr 2005 in Deutschland gelegten Eier wiegen gemeinsam fünfhundertvierundsiebzig Millionen und zweihundertvierundvierzigtausend Kilogramm, sind also zehnmal so schwer als der Ozeandampfer „Titanic“, der am 14. April 1912 gegen dreiundzwanzig Uhr und vierzig Minuten mit einem Eisberg zusammenstieß und zwei Stunden vierzig Minuten später im Nordatlantik versank. Würde man alle im Jahr 2005 in Deutschland gelegten Eier übereinander stapeln, ergäbe das einen fünfhundertfünfundfünfzigtausendsiebenhundertzwanzig Kilometer hohen Eierturm, das ist das Anderthalbfache der Strecke von der Erde bis zum Mond.
Legte man alle Eier nebeneinander, würden sie die Fläche von dreitausendvierhundertvierundzwanzig Fußballfeldern bedecken. Würde man diese Fußballfelder übereinander stapeln, ergäbe sich ein einhunderteinundfünfzig Meter hoher Eiquader, er hätte damit fast die Hälfte der Höhe des Eiffelturms und wäre nur ein klein wenig niedriger als der Kölner Dom. Würde man die Eier alle aufschlagen, ergäbe das dreihundertacht Millionen siebenhundertdreiunddreißigtausenddreihundertdreiunddreißig und ein Drittel Liter Eiflüssigkeit. Diese Menge würde ausreichen, um auf dem Münchner Oktoberfest einundfünfzig Jahre lang Eiglibber an Stelle von Bier auszuschenken, aber nur, wenn man davon ausgeht, dass die Maß Eiglibber auch gut eingeschenkt wird. Wahrscheinlicher aber ist es, dass der Glibber sogar für fast fünfundsiebzig Jahre ausreichen würde.
Das Ei ist aus unserer Kultur und unserem Sprachgebrauch nicht mehr wegzudenken, was der folgende klassische Eierwitz anschaulich illustriert. Kommt ein Mann zum Arzt. Sagt der Arzt: „Sie sind eine medizinische Sensation – Sie haben drei Eier.“ Der Patient freut sich, verlässt die Praxis und spricht auf der Straße den erstbesten anderen Mann an: „Hallo, wissen Sie was? Zusammen haben wir fünf Eier.“ Sagt der andere: „Ach so, Sie haben nur eins?“ Die Freude am Mehrbesitz von Eiern galt durch die ganze Geschichte der Menschheit als etwas Erstrebenswertes. Die Menschheit teilt sich in solche Menschen, die Eier haben und solche, die keine Eier haben, womit keineswegs nur Männer gemeint sind. Und obwohl Eier in unglaublichen Massen gelegt werden, ist der Verzehr von Eiern doch eine sehr persönliche Sache. Man kommt dem Tier sehr nahe. Man verspeist seine Nachkommen. Das Ei ist ein Symbol der Fruchtbarkeit. Wir stammen letztlich alle aus Eiern.
„Das Ei ist zu hart geworden“, sage ich. – „Das Ei ist genau richtig so“, sagt meine Freundin. Es ist Sonntagvormittag, der heilige Sonntagvormittag. Mit Ausschlafen, Sonntagszeitungen, klassischer Musik und einem opulenten Frühstück. Mit Ei. Immer mit Ei. Entweder als Rührei, dann lieber mit Pilzen oder Shrimps, oder weichgekocht. Ich mag sie etwas weicher. Eigentlich ist es schon Sonntagnachmittag.
„Hast du dir eigentlich schon einmal Gedanken darüber gemacht, welches Huhn dieses Ei gelegt hat, das du da gerade isst?“, frage ich. – „Nein“, sagt meine Freundin. „Du etwa?“
Na ja, noch nicht oft. Ich weiß nur wenig über die zweiunddreißig Millionen Hühner. Aber gerade eben hat eines davon angefangen, mich zu interessieren. Und wenn ich einmal damit angefangen habe, mich für etwas zu interessieren, dann bin ich nicht mehr aufzuhalten. Es ist Sonntag. Ich habe nichts zu tun. Ich werde das jetzt herausfinden. Ich schwöre, ich werde nicht locker lassen. Und das Beste dabei: Ich muss mich dafür nicht vom Fleck bewegen. „So so“, sagt meine Freundin.
Wir haben, was Eier betrifft, ein normal gutes Gewissen. Seit einiger Zeit schon kaufen wir im Supermarkt nur noch Bioeier, fragen Sie mich nicht, was der Auslöser war, die anderen waren uns irgendwann einfach zu eklig. Man kennt das ja: die traurigen Bilder aus den Legebatterien, wo Hühner immer noch auf einer Fläche leben müssen, die kleiner ist als ein DIN-A4-Blatt. Wer sie unbedingt noch einmal sehen will, im Internet gibt’s jede Menge davon. Ich habe diese Bilder immer gemieden.
Mit solcher Tierquälerei wollte ich nichts zu tun haben – was meinen Eierkauf aber viele Jahre lang nicht beeinflusst hat. Und dann, vor einigen Monaten, von einem Tag auf den anderen, kauften wir nur noch Bioeier. Wir haben es einfach getan. Eines war klar: Mit Boden- und Freilandhaltung wollten wir uns gar nicht aufhalten. Wenn wir schon etwas für die Hühner tun wollten, dann aber richtig. Boden- und Freilandhaltung, das war nur graduell besser als der Käfig. Bei der reinen Bodenhaltung sind die Tiere in geschlossenen Räumen untergebracht. Direkter Lichteinfall ist zu vermeiden, das macht die bis zu fünftausend Hennen der Kolonie wütend, und sie fangen vielleicht sogar an, sich gegenseitig umzubringen. Weil Hühner sich nur deutlich weniger als fünfzig Artgenossen merken können, kommt es in der großen Gruppe zu ständigen Kämpfen um die Rangordnung, was zu Stress und Verletzungen führt. Die Tiere kommen häufig mit Kot in Kontakt, deshalb verbreiten sich Krankheiten schneller, und es müssen mehr Antibiotika eingesetzt werden.
Freilandhaltung ist zwar schon besser, da gibt es Auslauf. Aber in der Biohaltung gibt es noch mehr Platz, die Hühner werden weitestgehend mit Biofutter verpflegt, und es gibt sogar Hähne. Nur Bio bringt Freiheit! Dachte ich. Und wenn ich seither mein Ei löffelte, dann hatte ich, sollte ich dabei überhaupt jemals an ein Huhn gedacht haben, das Bild eines glücklichen Huhns im Kopf. Dasselbe glückliche Huhn, das aus derselben glücklichen Familie stammt, mit der schon auf den Eierkartons meiner Kindheit geworben wurde: „Von glücklichen Hühnern“ stand darauf, und ich stellte mir vor, wie diese glücklichen Hühner im Pulk und gackernd über einen Bauernhof liefen, gejagt von einem kleinen blonden Jungen, der einen Weidenstock schwingt, so eine Art Astrid-Lindgren-Bauernhof-Vision.
Ich machte mir da selbstverständlich etwas vor. Denn obwohl wir nur Bioeier kaufen, essen wir trotzdem noch Unmengen der Eier, die in schrecklicher Käfighaltung gelegt wurden – versteckt in Produkten, die Eier enthalten und die nicht ausdrücklich mit Biozutaten hergestellt worden sind. Also in jedem herkömmlichen Produkt, in den Kuchen, die wir in Bäckereien kaufen (wenn es keine Biobäckereien sind), in Nudeln, Fertignahrung und im Katzenfutter (wenn wir eine Katze hätten). Aber immerhin: Das Ei, das ich persönlich auslöffle, gewissermaßen im Angesicht des Huhns beziehungsweise seines Hinterteils, soll sauber sein. Ist sauber. Ist doch sauber?
Die Sache ist ganz einfach, dachte ich mir, dafür braucht man keinen gesamten Sonntagnachmittag: Seit Anfang 2004 muss auf jedem Ei das Herkunftsland, die Haltungsform, der Betrieb und der Stall angegeben sein. Auf den ersten Blick kann man also sehen, ob mit dem Ei alles in Ordnung ist.
Die Länderkennzeichnung ist wie ein Autokennzeichen, die Haltungsform ist mit einem einfachen Zahlencode angegeben, und dann ist da eben noch diese Ziffernfolge, die sich auf einen bestimmten Betrieb und Stall in Soundso zurückverfolgen lässt, der im besten Fall nach Ökostandards Eier produziert. Wunderbar, Sache erledigt, ich musste noch nicht einmal den Frühstückstisch verlassen.
„Moment, Moment, nicht so schnell“, sagt meine Freundin. „Was heißt hier Soundso? Wo ist denn nun dieser Betrieb? Was ist denn das für einer?“
Ha, nichts leichter als das. Computer aufgeklappt, Browser gestartet, auf die Seite www.was-steht-auf-dem Ei.de des „KAT – Verein für kontrollierte Tierhaltungsformen“ gesurft. Eine super Seite. Die haben sogar eine Pac-Man-Version mit einem Huhn – Pickman, genial!
Statt der Geister verfolgen Füchse die Spielfigur, und das Labyrinth ist wie ein Supermarkt gestaltet. Dazu fetzige Musik. Und ab und zu muss man sich mit dem Huhn einen Einkaufswagen schnappen, damit kann man dann spezielle Bonuspunkte einsammeln. Zuerst wirkt es schwierig, aber wenn man sich über einige Runden warmgespielt hat, kann man es in die Highscoreliste schaffen. Ich verewige mich unter dem Pseudonym „Huhnibert“.
„Wolltest du nicht nachschauen, wo dieses Ei herkommt?“, fragt meine Freundin. Stimmt. Also tippe ich die Nummer des Eis in das vorgesehene Feld: 0 – DE 1261022. Und schon habe ich das Ergebnis: „Schatz, unser Ei kommt vom Biogeflügelhof Deersheim, und wenn du’s genau wissen willst: aus der Farm B2. Und hier schreibt der Verein: ‚Dieser Betrieb unterliegt unserem Kontrollsystem und wird regelmäßig überwacht.‘ Es handelt sich dabei um ‚Kontrollierte Biohaltung‘, was bedeutet: ‚Jeder Legehenne steht neben dem gesamten Stallraum tagsüber ein uneingeschränkter Freilandauslauf zum Laufen, Picken und Scharren zur Verfügung. Die Freifläche muss Buschwerk, Hecken oder sonstige Unterschlupfmöglichkeiten sowie Wassertränken für die Tiere bieten. In der Biohaltung darf ausschließlich ökologisch erzeugtes Futter aus gentechnisch unveränderten Erzeugnissen verwendet werden.‘ Mit anderen Worten: Unserem Huhn geht es gut. Sehr gut“, sagte ich. „Woher willst du das wissen?“, fragte meine Freundin. „Warst du schon einmal dort?“
War ich selbstverständlich nicht. Aber, dozierte ich meiner Freundin, im Zeitalter des Internet ist das auch gar nicht nötig. Was wetten wir, dass unser Biogeflügelhof eine eigene Internetpräsenz hat? Und die hatte er dann auch, sogar die exklusive Adresse www.biohenne.de. Gleich am Anfang begrüßten uns fünf lustige Comic-Hühner, die auf einer Stange saßen. Und hier verbrachten wir dann den Rest des Nachmittags, so viel Interessantes war da über das Huhn und das Ei im Allgemeinen und Speziellen zu entdecken. Sogar ein Rezept für Spiegeleier gab es da!
Auf dem Biogeflügelhof in Deersheim werden die Hühner in Farmen gehalten, die so schöne Namen haben wie „An den Eichen“, „Buschwiese“, „Wildrose“ oder „Waldblick“. Unsere Farm B2 war allerdings nicht zu entdecken, vielleicht war die Seite nicht ganz aktuell. Obwohl sie doch an anderer Stelle auf dem neuesten Stand war: Hier gab es das aktuelle „Hühnerbarometer“, denn „unsere Hühner haben einen abwechslungsreichen Tag. Was der Großteil gerade macht, können Sie hier sehen …“ Das war hochinteressant und versprach spannende Einblicke. Was unser Huhn wohl gerade machte? Ich hatte es mittlerweile insgeheim „Lotte“ getauft, sie war doch mein Huhn, gewissermaßen.
Lotte hatte mir ihren Nachwuchs zum Verzehr geschenkt. Damit hatte sie sich redlich einen schönen Namen verdient. Mal sehen, was das Hühnerbarometer sagte. War Lotte eine von den fleißigen fünfzehn Prozent, die gerade „Eier legen“? Oder war sie unter jenen fünfunddreißig Prozent, die im Moment „spielen“? Vielleicht gehörte sie auch zu den zwanzig Prozent, die schon „schlafen“. Oder war sie wanderlustig und, wie zehn Prozent, gerade „spazieren gehen“? Beruhigt stellte ich fest, dass auch für das leibliche Wohl der guten Lotte gesorgt wurde: Zwanzig Prozent ihrer Freundinnen waren gerade beim „Essen“. Ob sie dabei war? Eigentlich egal: Lotte ging es in jedem Fall gut.
Ich startete den Film, mit dem sich der Biogeflügelhof Deersheim auf seiner Seite präsentiert. Sein Titel: „Die Biohenne als Filmstar“. Ein Klavier klimperte. „Das ist ein Bioei“, sagte ein Mann. Es war ein Trickfilm, in dem jetzt ein Trickfilmei zu sehen war, aus dem ein Trickfilmküken schlüpfte, das schnell zu einem Trickfilmhuhn heranwuchs. „Und das ist Lotte“, sagte der Mann jetzt. „Lotte geht es gut. Denn Lotte ist eine Biohenne.“
„Schau einer an“, sagte ich. – „Lotte? Wer nennt denn sein Huhn Lotte?“, fragte meine Freundin.
„Biohennen sind Hennen, die tagsüber im Freien viel Sport treiben“, sagte der Mann jetzt. „Deshalb sind sie auch besonders stark. So wie Lotte, wenn sie sich wieder einmal Adler Alfred vom Leibe hält.“ Im Film war zu sehen, wie das Trickfilmhuhn einem Trickfilmadler in die Fresse schlug. „Weil Lotte gesund und zufrieden ist, legt sie auch gerne Eier“, sagte die Stimme. Es traten tatsächlich echte Hühner auf, die an einem strahlenden Tag und in völliger Freiheit an einem Waldrand pickten. „So kann man sie tagsüber auf den Feldern, im Wald und auf den Wiesen beobachten.“ Dann war ein bärtiger Typ von „Gäa Sachsen-Anhalt“ zu sehen, der bestätigte, dass der Biogeflügelhof und auch sein Futter zuliefernder Bauer von Gäa kontrolliert werde. Es sprach auch die Geschäftsführerin des Betriebes, die erläuterte, man habe schon vor Jahren den Betrieb auf biologische Haltung umgestellt, auch weil man von den ethischen Vorteilen dieser Haltungsform überzeugt sei. Zwischendurch wurden einige süße Küken gezeigt, später waren wieder die Hühner zu sehen, die sich, „erschöpft von den Anstrengungen des Tages“, zum Schlafen auf die Stange setzten und ihre „müden Augen“ schlossen – „wie alle anderen Hühner auch“. – „Bestimmt haben sie schönere Träume“, sagte der Mann mit optimistischer, sanfter Stimme. Sonnenuntergang, romantische Musik, so endet der Tag auf dem Biogeflügelhof Deersheim. Und so endete auch der Film. „Lotte geht es gut“, sagte ich. „Lotte geht es richtig gut“, sagte meine Freundin. Und fielen uns erleichtert in die Arme.
Später sagte sie: „Sag mal, wie machen die das eigentlich mit diesem Hühnerbarometer?“ – „Ist doch ganz klar“, sagte ich. „Jedes Huhn hat einen Transponder, und dieser Transponder sendet den individuellen Code der Henne an den Zentralrechner, und der weiß dann immer genau, wo sie sich gerade befindet. Technisch ist das überhaupt kein Problem mehr. Künftig werden alle Produkte solche Funkchips tragen, das ist die Zukunft.
Und hier hat sie schon angefangen, wo sonst als in der fortschrittlichen Biogeflügelhaltung?“ – „Tatsächlich“, sagte meine Freundin. „Oder die haben Leute, die ständig die Hühner im Blick behalten und beobachten, was sie den ganzen Tag lang tun“, sagte ich, „ist doch im Osten. Die haben viele Arbeitskräfte dort. Bestimmt haben die auch so eine Art Hühnerredaktion, die Neuigkeiten aus der Farm Waldblick berichtet. Oder eine eigene Zeitung herausgibt: den Buschrosenboten. Da stehen nur gute Nachrichten drin. In Hühner- und in Menschensprache. Wir könnten uns den Buschrosenboten abonnieren.“
„Wenn du meinst“, sagte meine Freundin. Und wir seufzten glücklich.
„Weißt du was? Nächstes Wochenende besuchen wir Lotte. Wir leihen uns ein Auto, machen eine kleine Landpartie, schütteln Lotte die Kralle und gehen im Wald spazieren, was hältst du davon?“, sagten meine Freundin und ich gleichzeitig. Denn wie hieß es doch so schön im Werbefilm über Deersheim? „Manche Leute kommen extra hierher, um sich Bioeier zu kaufen.“ Das konnten wir auch. Aber vielleicht sollten wir uns anmelden. Also schrieb ich eine freundliche Mail an eine der Ansprechpartnerinnen, die mir „gern persönlich Rede und Antwort stehen“, und bat um einen Termin. So ging unser Tag zu Ende, und wir gingen zu Bett, um friedlich von den glücklichen Biohühnern auf dem idyllischen Astrid-Lindgren- Bauernhof zu träumen.
Leider wurde daraus nichts. Ich schlief unruhig, wälzte mich hin und her. Und dann wachte ich auf. Draußen wehte ein Sturm. In der Wohnung knackte es irgendwo. Mit offenen Augen lag ich da. Nebenan hustete der Nachbar. Mein Körper musste Lottes Leibesfrucht mittlerweile völlig absorbiert haben. Was sie wohl gerade trieb? Ging es ihr wirklich gut? Der Gedanke ließ mir keine Ruhe. Ich stand auf. Es war ein Uhr achtundvierzig. Ich ging ins Wohnzimmer. Der Fußboden knarzte. Auf dem Tisch lag noch mein Notebook. Ich klappte es auf und besuchte die Seite des Biogeflügelhofs. Die Seite baute sich auf. Gleich würde mir das Hühnerbarometer Gewissheit und einen ruhigen Schlaf schenken. Jetzt mussten alle Hühner friedlich schlafen. Hundert Prozent auf dem Hühnerbarometer.
Sollte auch nur ein Prozent noch wach sein und als spazierengehend gemeldet werden, ich wäre mir sicher gewesen: Lotte ist noch wach und hat sich verlaufen. Das arme Tier! Oder musste sie etwa als Einzige noch aufbleiben und Eier legen bis spät in die Nacht? Vielleicht hatte sie einfach einen schlechten Tag gehabt oder keine Lust. Auch ein Huhn hat ein Recht auf einen schlechten Tag! Auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und dreißig Tage Urlaub im Jahr. Ich würde mich sofort bei der Hühnergewerkschaft beschweren. Oder, falls nötig, eine gründen. Die Seite war geladen.
Das aktuelle Hühnerbarometer, das mich in dieser stürmischen Nacht doch eigentlich hätte beruhigen sollen, versetzte mich in Panik. Laut Statistik, aufgerufen um kurz vor zwei Uhr nachts auf www.biohenne.de, waren gerade in diesem Moment fünfzig Prozent der Hühner dabei, Eier zu legen. Das konnte doch nicht sein! Zwanzig Prozent spielten! Fünfzehn Prozent machten gerade eine Nachtwanderung. Zehn Prozent gönnten sich ein Mitternachtsmahl. Und nur fünf Prozent taten das, was Hühner um diese Zeit eigentlich längst tun müssten: Sie schliefen. Wie konnte das sein? Waren die Hühnerzähler verreist? Oder schliefen etwa sie? War der Zentralrechner defekt, waren die Transponder gestört?
Ich rief meinen Kumpel Michael an. Michael betreibt eine kleine Internetfirma und kennt sich mit so etwas aus. „Bist du noch wach?“, fragte ich. – „Jetzt wieder.“ Und ich erzählte ihm die Geschichte von Lotte und dem Transponder, der ja wohl kaputt sein müsse. „Hmm“, sagte Michael, „du solltest das im Auge behalten. Vielleicht bewegt sich das Hühnerbarometer gar nicht. Könnte sein, dass der Hauptrechner abgestürzt ist und keine aktuellen Daten mehr liefert. Oder die Transponder gestört sind. Das kann schon mal passieren.“ Ich klickte auf „Aktualisieren“. Die Grafik blieb dieselbe. „Behalt das Hühnerbarometer besser mal im Auge. Ich gehe wieder schlafen.“ Er lachte grimmig, was ich mir nicht erklären konnte, da es sich hier doch um eine sehr ernste Angelegenheit handelte. Aber als ich ihn nach dem Grund seiner Heiterkeit fragen wollte, hatte er schon aufgelegt.
Was blieb mir anderes übrig? Ich folgte seinem Rat, saß da und beobachtete die Grafik, Minute um Minute. Ich nahm mir vor, sie jede Minute einmal zu aktualisieren, aber es machte keinen Unterschied, ob ich ständig aktualisierte, nichts veränderte sich, nichts geschah. Vielleicht jetzt? Nein, immer noch nicht. „Kommst du nicht schlafen?“, fragte meine Freundin. „Später, meine Liebe. Ich muss Lotte beobachten“, sagte ich. Noch mal aktualisieren. Immer noch nichts. Sie ging wieder ins Bett. Ich stand auf, machte mir eine Tasse Tee und schaute in den Kühlschrank. Es waren noch vier Eier in dem Karton, aus dem ich am Morgen Lottes Ei genommen hatte. Wenn mit Lotte irgendetwas nicht in Ordnung wäre, dann würde ich diese Eier nicht mehr essen wollen. Ich würde sie feierlich beerdigen und in tiefem Respekt vor der Kreatur vor ihrem Grab verharren.
So wie jetzt vor dem Hühnerbarometer. Aber nichts passierte. Immer wieder fielen meine Lider, einmal war ich kurz davor einzuschlafen, ganz kurz davor, aber plötzlich war da ein lautes Schnarchen zu hören, und davon wachte ich wieder auf. Es war vier Uhr dreiunddreißig. Und es hatte sich etwas getan auf dem Biogeflügelhof. Jetzt waren siebzig Prozent der Hühner damit beschäftigt, Eier zu legen, zehn Prozent spielten, fünf Prozent schliefen, zehn Prozent gingen spazieren, und fünf Prozent stärkten sich. Der Biobauernhof war wieder auf Sendung! Ich ließ das Hühnerbarometer nicht mehr aus den Augen. Dort tat sich – nichts. War es wieder abgestürzt? War etwa mein Rechner abgestürzt? Nein, alles in Ordnung. Nur das Hühnerbarometer stand wieder still. Aber diesmal blieb ich wach.
Ich war zum Hühnerforscher geworden. Und Folgendes fand ich während meiner siebentägigen Beobachtung, vierundzwanzigstündigen Überwachung heraus: Die Hühner auf dem Biogeflügelhof Deersheim hatten einen sehr geregelten Tagesablauf. Sie verhielten sich statistisch gesehen immer wieder gleich. Es gab tatsächlich nur acht verschiedene statistische Verteilungen, die das Verhalten der Hühner anzeigten. Alle drei Stunden wechselte die Anzeige, immer in derselben Reihenfolge. Im statistischen Mittel ergab sich für Lotte folgendes Tagespensum: acht Stunden und zweiundvierzig Minuten verbrachte sie im Schnitt damit, Eier zu legen, was mir als ungewöhnlich viel erschien. Sie schlief nur vier Stunden und drei Minuten.
Fürs Spielen hatte sie neun Minuten mehr Zeit. Drei drei Viertel Stunden ging sie spazieren. Und immerhin drei Stunden und achtzehn Minuten verbrachte sie mit der Nahrungsaufnahme. Also, rein statistisch. Anders konnte ich das nicht herausfinden. Denn der Biogeflügelhof antwortete nicht auf meine Mail. Also rief ich an. Was gar nicht so einfach ist. Denn um Auskünfte zu erhalten, muss man mit der Geschäftsführerin sprechen. Und die ist eine beschäftigte Frau, wie sie mir auch gleich sagte, als ich sie erreichte. Ich könne deshalb leider auch nicht kommen. Sie bezweifelte, dass das Ei, das ich im Supermarkt gekauft hatte, aus ihrem Betrieb stammte.
Um sicherzugehen, dass ich mich nicht geirrt hatte, las ich ihr noch mal die Nummer vor: 0 – DE 1261022. Und es stellte sich heraus: Lotte befand sich nicht in Deersheim, sondern in Bestensee. Deersheim, lernte ich später, ist ein Ort mit achthundert Einwohnern, gehört zu Sachsen-Anhalt und befindet sich im Nichts der ehemaligen Zonengrenze zwischen Magdeburg und Salzgitter. Die Farm B2, aus der mein Ei stammte und in der folgerichtig Lotte wohnte, gehörte zwar der Biogeflügelhof Deersheim GmbH, stand aber in Bestensee, einem brandenburgischen Ort in der Nähe von Pätz und Motzen, ungefähr vierundvierzig Kilometer südlich von Berlin. Das war eine „Packstelle“, wie die Geschäftsführerin sagte, was ich so verstand, dass dort Eier eingepackt wurden. Ob ich denn die Packstelle besuchen könnte? Das müsse ich mit deren Leiter vereinbaren, sagte die Geschäftsführerin.
Ob sie mir denn in der Packstelle einen Ansprechpartner nennen könne, fragte ich die Geschäftsführerin. Ich sollte ihr meine Nummer geben, sie würde mich zurückrufen. Tatsächlich rief sie am selben Nachmittag an. Aber ich verpasste ihren Anruf. Und als ich sie zurückrufen wollte, war sie in Urlaub. Erst zwei Wochen später sollte ich sie wieder erreichen können.
Zwischendurch machte ich mir wieder Gedanken über das Hühnerbarometer. Traf es auf Lotte zu? Wahrscheinlich nicht. „Was der Großteil unserer Hühner gerade macht“, das bezog sich wahrscheinlich nur auf die ortsansässigen Hennen in Deersheim. Und Lotte war in Bestensee. Die Ökobilanz betrachtet, war das viel besser als Deersheim – das Ei musste nicht unsinnigerweise zweihundertvierunddreißig Kilometer per LKW nach Berlin gefahren werden, sondern stammte direkt aus der Umgebung. Ein regionales Produkt. Wie es wohl Lotte ging? Ich musste immer noch an sie denken, wenn auch nicht mehr ganz so viel wie früher.
„Hast du eine andere?“, fragte meine Freundin. – „Ich denke an Lotte“, sagte ich. – „Du denkst an ein Huhn.“ Ich hörte, wie sie am Telefon einer Person erzählte: „Mein Freund denkt an ein Huhn.“ Aber das beirrte mich nicht.
Endlich erreichte ich die Geschäftsführerin wieder. Sie erinnerte sich sogar an mich. Nur – leider könne ich die Packstelle nicht besuchen. Wegen der Vogelgrippe, ich müsse verstehen.
Die Vogelgrippe. Diese schreckliche Krankheit, an der wir vor einiger Zeit einige Monate lang alle gestorben sind. Ich hatte sie fast schon wieder vergessen, aber sie war immer noch da – in Gestalt von Stallpflicht. In Vogelgrippegefahrenzonen verhängt das zuständige Veterinäramt im Bedarfsfall eine dauerhafte Stallpflicht für Geflügel. Zwar war die Freilandhaltung in vielen Gebieten zwischenzeitlich wieder dauerhaft erlaubt worden – in Bestensee jedoch bestand die Stallpflicht immer noch. Das bedeutete, dass Lotte niemals spazieren gehen konnte. Sie wurde in einer Halle gehalten. Trotzdem dürfen so hergestellte Eier Bioeier heißen – auch wenn die Hennen, die sie legen, niemals im Freien waren. Es kommt nur darauf an, dass sie biologisch erzeugtes Futter bekommen, dann bleiben sie auch dann Biohennen, wenn sie wegen Vogelgrippegefahr dauerhaft eingesperrt sind.
Damit änderte sich Lottes von mir konstruierter Tagesablauf radikal. Offensichtlich hatte Lotte die Vogelgrippe erwischt, jedenfalls hatte sie ihr die Freiheit geraubt. Ich war, muss ich gestehen, geschockt. So geschockt, dass ich ganz vergaß, die Geschäftsführerin nach der genauen Adresse von Lottes Heimatfarm B2 zu fragen. Ich überlegte gerade, ob ich sie nicht gleich noch mal anrufen sollte, da klingelte das Telefon. Es war Kumpel Michael.
„Wollte nur wissen, ob du immer noch vor dem Hühnerbarometer hockst“, sagte er. „Nein, Lotte wohnt gar nicht in Deersheim“, sagte ich, „war aber trotzdem ganz interessant. Ich glaube, die stellen dort irgendetwas Seltsames mit den Hühnern an. Die haben einen ganz genau abgezirkelten Lebensrhythmus, legen unglaublich lange Eier und schlafen kaum.“
Und je länger ich erzählte, desto mehr musste Michael lachen. „Ich kann dich beruhigen“, sagte Michael. „Dein Huhn bekommt seinen Nachtschlaf, keine Sorge.“ – „Aber wie kann das sein, wenn doch das Hühnerbarometer etwas ganz anderes anzeigt?“, fragte ich.
„Wie das sein kann? Das will ich dir sagen: Dein Hühnerbarometer ist ein kompletter Scheiß. Die verarschen dich. Die Hühner werden nicht gezählt. Das ist ganz simpel programmiert. Diese Prozentzahlen hat sich jemand ausgedacht. Das kann doch jeder. Kann ich dir auch machen. Ich würde es aber schlauer anstellen, etwas plausibler, als die das offensichtlich gemacht haben.“
Da fiel es mir wieder ein. Er hatte es mir ja schon einmal erzählt. Michael hatte ganz am Anfang, kurz nach der Firmengründung, einen Kunden, der Stripshows über das Internet verkaufen wollte. Die Darstellerinnen arbeiteten hauptberuflich als Prostituierte in einem Bordell, das nur wenige Straßen von der Firma entfernt war. Der Bordellbesitzer wollte mit dem Internetsex die Zeit versilbern, in der die Frauen auf reale Kunden warteten. Michael und sein Kompagnon installierten die Webcams und betreuten die technische Übertragung. Wenn eine rote Lampe aufleuchtete, bedeutete das, dass ein virtueller Freier online war, und von den Frauen wurde erwartet, dass sie sich dann entkleideten und an sich herumspielten.
Das Geschäft lief aber schlecht. Aus irgendeinem Grund wollte der Zuhälter nicht, dass die Frauen merkten, dass kaum jemand sie strippen sehen wollte. Also schrieb Michael ein kleines Programm, das in unregelmäßigen Abständen im Puff die rote Lampe aufleuchten ließ. Auf dem Bildschirm im Bordell zeigte das Programm zufällig erzeugte Äußerungen von erfundenen Chatteilnehmern an: Die Frauen sollten glauben, dass irgendwo an einem Rechner ein Kunde saß und ihnen zusah und beispielsweise „Show me your tits“ eintippte. Und sie glaubten es. Und taten es. Die Frauen strippten, zogen sich aus, räkelten sich, und niemand war da, der ihnen dabei zugesehen hätte. „Wir haben die Hühner ganz schön tanzen lassen“, sagte Michael und lachte dreckig. „Alle glauben, was der Computer ihnen sagt oder die Statistik. Und das gilt besonders für computererzeugte Statistik. Dafür sind die gemacht. Aber du glaubst es auch? Du hast es doch nicht wirklich geglaubt?“ Er lachte wieder. Und immer noch lachend legte er auf.
Das gab mir den Rest. Lotte saß irgendwo im Dunklen. Die Hühner in Deersheim taten wohl alles Mögliche, aber nicht das, was das sogenannte Hühnerbarometer gerade anzeigte. Ich wusste weniger über mein Bioei als je zuvor. Auf der Biohennehomepage suchte ich verzweifelt nach einem Hinweis darauf, dass vielleicht doch alles in Ordnung wäre. Und tatsächlich, ich fand ihn. Zertifikate! Warum hatte ich nicht schon früher an die Zertifikate gedacht?
Zertifikate sind eine ganz tolle Sache. Weil wir Verbraucher nicht alles selbst überprüfen können, schicken wir unabhängige Fachleute in die Betriebe, die überprüfen dann für uns. Die Prüfer stellen anschließend ein Zertifikat aus, das wir Verbraucher dann mehr oder weniger intensiv zur Kenntnis nehmen. Die Hauptsache ist, dass es ein Zertifikat gibt. Dann sind wir schon beruhigt. Die Prüfer kennen sich doch viel besser aus als wir! Prüfern können wir vertrauen. Und auch ihren Zertifikaten. Der Biogeflügelhof Deersheim hatte gleich vier davon auf seiner Homepage, denn „alle unsere Bemühungen werden irgendwann einmal belohnt“. Das erste Zertifikat trug das Label des International Food Standard (IFS) und bescheinigt dem Biogeflügelhof Deersheim, diesen „auf höherem Niveau“ erfüllt zu haben. IFS ist eine Organisation der Einzelhändler, also der verkaufenden Supermärkte. Sie prüfen die angeschlossenen Betriebe zwar, machen die Ergebnisse der Prüfung aber nicht öffentlich. Das Siegel war für mich sowieso wertlos: Hier bestätigte die Verkäuferseite, dass mit dem Produkt alles in Ordnung sei. Und dass die Verkäufer dieser Ansicht waren, das wusste ich ja schon.
Ich wollte aber, dass mir unabhängige Experten bestätigten, dass es Lotte gutging. Das zweite Zertifikat stammte vom Ökolandbauverband Gäa, mit dem der Biogeflügelhof Deersheim sehr viel Werbung macht. Ist ja auch ein vertrauenswürdiger Verband, unabhängig und streng, mit Richtlinien, die über jene der EU hinausgehen.
Und dann gab es noch zwei Zertifikate von einer „Öko-Prüfstelle e. V.“ namens „Grünstempel“. Eines war die „Bestätigung der ökologischen Bewirtschaftung“, das andere ein „Kontrollzertifikat“, das irgendwie noch mal dasselbe bestätigte. Okay, immerhin drei Zertifikate von zwei unabhängigen Stellen. Ich wollte den Computer schon ausschalten, da wurde ich stutzig. Und sah noch mal genauer hin. Alle vier Zertifikate waren bereits abgelaufen, seit über einem Jahr. Kann ja mal passieren, dass man seine Webseite nicht aktualisiert. Also rief ich bei Gäa an. Und erreichte tatsächlich sofort eine freundliche Mitarbeiterin. Die mir aber erklärte, dass der Biogeflügelhof Deersheim nicht mehr nach Gäa-Richtlinien zertifiziert sei. Wie denn das käme?, wollte ich wissen. Ja, dieser Hof sei vom Gäa-Landesverband Sachsen-Anhalt zertifiziert, sagte sie. Na und? Tja, stellte sich heraus, der Gäa-Landesverband Sachsen-Anhalt sei nicht mehr im Bundesverband und auch nicht berechtigt, Gäa-Zertifikate auszustellen.
Seltsam. Warum denn der Landesverband Sachsen-Anhalt nicht mehr im Bundesverband sei? Und da erzählte die freundliche Gäa-Mitarbeiterin von unterschiedlichen Auffassungen, aber um was es eigentlich ging, erzählte sie mir nicht. Sie plauderte so freundlich, dass wir uns längst in einem allgemeinen Gespräch über Bioessen befanden, als es mir auffiel, und dann kam es mir unhöflich vor, noch weiter nachzubohren.
Also sprachen wir Allgemeines. Ob denn Biokost aus dem Supermarkt überhaupt gesünder sei als konventionelle Ware, wollte ich wissen. Na ja, das sei wissenschaftlich schwer nachzuweisen, sagte sie. Aber immerhin seien Biolebensmittel grundsätzlich weniger mit Pestiziden belastet als konventionelle. Sie erzählte mir von einer Studie aus Österreich. Deren Verfasser hatten 170 internationale Untersuchungen ausgewertet. Unter anderem heißt es bei ihnen, dass Biogemüse und Bioobst mehr Vitamine habe als konventionelles, besser haltbar sei, weniger Nitrat enthalte, deutlich geringere Pestizidrückstände aufweise und, laut Geschmacksproben, besser schmecke. Biofleisch habe eine günstigere Fettsäurezusammenfassung, Bioeier eine höhere ernährungsphysiologische Qualität – weil die Hühner besseres Futter bekommen. Kein Gift und kein genverändertes Essen hätten zum Beispiel bei Männern einen ganz konkreten Effekt: Männer, die sich ausschließlich organisch ernähren, sind dänischen Vergleichsuntersuchungen zufolge fruchtbarer als andere. Hochinteressant. Allerdings arbeiteten die Biodänen mit dem Supersperma auf einer Ökofarm und die normal fruchtbaren nicht. Interessanter fände ich eine Vergleichsstudie mit Dänen, die sich von Supermarktbilligökoprodukten ernähren.
Die Ökolebensmittelbranche, sagte die Gäa-Frau, stehe im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit wie sonst keine. Dabei habe sie nur einen Marktanteil von deutlich unter fünf Prozent. Gäa überbiete zwar die EU-Ökorichtlinie, verlange also noch besseres Futter, noch mehr Auslauffläche, noch weniger Gift – aber immerhin, wenn die gesamte EU-Landwirtschaft nach der EU-Richtlinie arbeiten würde, dann wären wir schon ein ganzes Stück weiter, sagte die Biolobbyistin. Und weil die Branche noch relativ klein sei, habe man noch gar nicht die Möglichkeiten, über das reine Herstellungsverfahren hinaus nachhaltig zu produzieren. Und so könne es eben sein, dass in einem Jahr mit schlechter Kartoffelernte die Biokartoffeln nicht vom Bauern nebenan kommen, sondern mit dem Schiff aus Übersee. Und das sogar, wenn es in den deutschen Lagern noch genügend Biokartoffeln gäbe – aber eben nicht die schönen Frühkartoffeln, sondern schon etwas ältere, verschrumpelte. Und die wolle der Biokunde nicht mehr haben.
Klar sei es ein Ziel, alles in der Region zu produzieren, um beim Transport möglichst wenig Energie zu verbrauchen, aber die Branche sei noch zu klein und zu jung, um dieses Ziel jetzt schon erreichen zu können, sagte die Gäa-Frau. Ein sehr interessantes Gespräch. Trotzdem wurde ich langsam unruhig. Denn Lotte hatte mich all das kein Stück näher gebracht. Nun ja, vielleicht könnten mir ja die Leute bei Grünstempel mehr berichten, dachte ich, und suchte mir die Adresse heraus. Und es stellte sich heraus, dass Grünstempel dieselbe Adresse hatte wie Gäa Sachsen-Anhalt, der Verein war, wie ich später lernte, aus Gäa Sachsen-Anhalt hervorgegangen. Die Dame, die ich bei Grünstempel erreichte, konnte mir noch nicht einmal sagen, wann Grünstempel gegründet worden war, ohne mich auf ihren Chef zu verweisen, der aber nicht da sei. Nur das konnte sie mir sagen: Der Biogeflügelhof Deersheim werde nach wie vor von Grünstempel geprüft und erfülle nach wie vor die EU-Ökokriterien. Immerhin.
Ich rekapitulierte. Das Bioei mit der Nummer 0 – DE 1261022, Lottes Leibesfrucht, die ich am Sonntag verspeist hatte, stammte nicht von einer Henne, die sich in Wald und Wiese vergnügte, wie es mich der Werbefilm der Erzeugerfirma glauben machen wollte. Die Firma war auch nicht nach den Gäa-Richtlinien zertifiziert, wie sie behauptete. Der Landesverband, der ihr Zertifikat ausgestellt hatte, durfte mittlerweile keine Gäa-Zertifikate mehr ausstellen – aus welchen Gründen auch immer. Es war also von vier Zertifikaten auf der Biohenneseite eines von einem Industrieverein ausgestellt und drei stammten von ein und derselben Adresse. Dazu waren alle vier veraltet.
Ich forschte weiter nach. Der einzige Eier erzeugende Betrieb in Bestensee ist laut Auskunft der Gemeinde die „Landkost Ei Erzeugergemeinschaft GmbH“. Sie besitzt in Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt Legeplätze für drei Millionen Hennen, die im Jahr eine Milliarde Eier legen, und machte im Jahr 2001 einen Umsatz von rund 92 Millionen Euro. Ein Drittel der Landkostlegeplätze sind für Boden- oder Freilandhaltung ausgestattet. Mit anderen Worten: Zwei Millionen Landkosthühner hausen in Käfigen. Die Landkostei gehört (zum Teil) einer Familie Eskildsen. Der Biogeflügelhof Deersheim ist ebenfalls ein Eskildsenbetrieb. Stammte das Ei 0 – DE 1261022 von Landkostei? Stand in Bestensee die Farm B2, wo Lotte lebte?
Ich schickte eine Mail an den Biogeflügelhof Deersheim. Ich wollte jetzt verdammt noch mal wissen, wo Lotte war. Ich wollte außerdem wissen, warum die Deersheimer mit einem Zertifikat warben, das längst abgelaufen war. Und ich wollte endlich wissen, wie das Hühnerbarometer funktionierte. Ob es überhaupt funktionierte. Auf eine Antwort warte ich heute noch.
Am Anfang hatte ich es mir so einfach vorgestellt. Ich kaufe ein Bioei und mit dem Bioei ist dann alles in Ordnung. Ich konnte Lotte – theoretisch – von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten, ihr die Kralle schütteln und, wenn es sein musste, auch den Adler Alfred vertreiben. Und jetzt? Ich wusste gar nichts. Meine Freundin steckte den Kopf zur Tür herein. „Brütest du immer noch über dem Ei?“, fragte sie. Das tat ich. Aber es hatte keinen Sinn mehr, hier herumzusitzen. Wenn ich unbedingt wissen wollte, wie es Lotte ging, dann musste ich sie suchen gehen. Es blieb mir nichts mehr anderes übrig.
Ich bin dann also hingefahren, den ganzen Weg nach Brandenburg. Habe mir bei der erstbesten Autovermietung das billigste Modell gemietet und bin losgefahren. Erst als ich schon drinsaß, merkte ich, dass es sich um einen weißen Kastenwagen handelte, wie ihn auch Natascha Kampuschs Entführer Wolfgang Priklopil benützt hatte. Man fährt von Berlin-Kreuzberg aus etwa eine Stunde nach Bestensee, wenn die Straßen frei sind und man sich nicht verfährt.
Die Straßen waren voll, und ich habe mich verfahren. Kurz vor Bestensee hätte ich beinahe einen Hasen überfahren, zum Glück konnte ich noch rechtzeitig bremsen. Als ich endlich ankam, war es bereits stockdunkel. Ich fuhr durch den menschenleeren Ort, dachte schon, ich wäre wieder hinausgefahren und fand dann ein ganzes Stück weiter doch noch die Einfahrt eines Agrarbetriebes mit einem großen „Landkost“-Schild davor. Das eigentliche Firmengelände war mit einer Schranke versperrt. In der Verwaltungsbaracke brannte noch Licht. Okay, ich hatte jetzt mehrere Möglichkeiten. Ich parkte den Wagen auf dem Parkplatz, stieg aus, steckte mir eine Zigarette an und überlegte. Ich könnte da jetzt reingehen und nach der Farm B2 fragen. „Wo sind die Hühner?“, könnte ich fragen oder rufen: „Bringen Sie mich zu den Hühnern!“ Ich hatte keinen Termin. Es war nach sechs Uhr abends. Wegen der Vogelgrippe war jeder Personenverkehr von Amts wegen auf das Nötigste zu begrenzen. Die Chancen standen schlecht, dass jemand für mich eine Ausnahme machen würde.
Ich könnte mich jetzt wieder ins Auto setzen, Anlauf nehmen und mit dem Kastenwagen die Schranke durchbrechen und zu den Ställen rasen. Auf dem Luftbild hatte ich gesehen, dass sich dahinter ein großer Komplex mit Stallungen befand, insgesamt dreißig etwa fünfzig Meter lange Gebäude, in kleinen Gruppen im Wald stehend, in der näheren Umgebung nochmal dreißig Gebäude mehr. Ich könnte jetzt durchbrechen und die mehrere Kilometer lange Betriebsstraße hinunterjagen, ganz hinter bis zum letzten Stall rasen und ihn aufbrechen, „Lotte!“, würde ich rufen, „Loooottee!“, und vielleicht würde ich sie finden und sie endlich fragen können: „Geht es dir gut, Lotte? Sag es mir, geht es dir gut?“
Da ging eine Tür auf, und eine Frau kam heraus. Sie beendete gerade ihren Arbeitstag und ging zum Parkplatz zu ihrem Auto und sah dort neben einem gemieteten weißen Kastenwagen einen Mann im Dunklen stehen, der gerade an einer Zigarette sog und sie unschlüssig anstarrte. Ich sagte: „Guten Abend.“ Sie sagte: „Guten Abend.“ Dann stieg sie in ihr Auto und fuhr davon. Und ich drückte die Zigarette aus, schnappte noch ein wenig frische Luft und fuhr nach Hause. Ich wollte nicht der Freak sein, der nachts Frauen auflauert. Oder Hühnern.
Auf dem Heimweg dachte ich nach. Sollte ich in Zukunft noch Bioeier kaufen, obwohl es nicht möglich war, Lotte zu finden? Seit neuestem waren alle Bioeier in meinem Supermarkt mit dem Kennzeichen NL versehen. Nach Holland würde ich sicher nicht fahren wollen. Aber deswegen auf Nichtbioeier umsteigen? Nein, ich würde weiter Bioeier kaufen.
Dass ich Lotte nicht sehen konnte, hieß nicht zwangsläufig, dass es ihr schlecht ging. Dass mich Lottes Besitzer einseifen wollten, bedeutete nicht, dass sie gegen Gesetze verstießen. Vielleicht hatte ich einfach Pech gehabt mit meinem Ei. Vielleicht waren alle anderen Eier perfekt und ihre Hennen glücklich, kräftig, jederzeit besuchbar. Mein Ei, das war ja nur eines von über neun Milliarden. Ich wollte es gerne glauben. Ich war ja nur ein Konsument.
STEFAN KUZMANY, Jahrgang 1972, Redakteur der taz seit 1999, leitet in dieser Zeitung das Ressort taz zwei. Seine Liebesgeschichte über Lotte, das unbekannte Huhn, ist ein Vorabdruck aus seinem aktuell erschienenen Buch „Gute Marken. Böse Marken. Konsumieren lernen, aber richtig“, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007, 194 Seiten, acht Euro