: Bauboom auf schrumpfendem Grund
Sylt bröckelt. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb wachsen die Grundstückspreise in den Himmel. Wer sie sich leisten kann, zählt zu den Erfolgreichen der Republik. Der Naturschutz rangiert hinter dem Eigennutz. Mit weitreichenden Folgen für die verletzlichen Küsten der beliebten Nordseeinsel
VON ANGELIKA BASDORF
Wir müssen uns Gedanken um diese gebrechliche Insel machen“, sagt Professor Karsten Reise. Aus dem Fenster seines Büros blickt der Leiter des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung auf ein wogendes, grünes Meer von Heckenrosen. Dahinter sieht man das blaue Meer. Friedlich ist es heute, und sein Indigo verschwimmt am Horizont mit dem Azur des Himmels. Wer die Nordsee so sieht, kann sich gar nicht vorstellen, was sie anzurichten im Stande ist. In ganz normalen Wintern verliert Sylt durch sie vor allem an seiner Westflanke einige Meter Land. „Der Mensch hat verletzliche Küsten geschaffen“, sagt Reise und prognostiziert , dass das heute 99 Quadratkilometer große Sylt bis 2100 durch den ansteigenden Meeresspiegel beträchtlich geschrumpft sein wird. Damit wollen sich die Sylter nicht abfinden und organisieren seit mehr als 30 Jahren die Gegenwehr in Form von Sandvorspülungen. Hunderttausende Tonnen feinsten Sandes schaufelt ein Baggerschiff auf die weißen Strände. Aber es ist der Kampf Davids gegen Goliath. Denn das Meer, so der Experte Reise, entwickle dadurch erst recht „Sandhunger“. Die vier Millionen Euro, die diese gigantische Materialbewegung pro Jahr kostet, könne man sich sparen. „Langfristig“, sagt der Meeresbiologe, „kann man mit der Natur nur zurechtkommen, indem man das Meer lässt und den Substanzverlust ordnend begleitet.
Derartige Überlegungen werden von den für Sylt Verantwortlichen ignoriert. Anders als Reise, der sich für den Lebensraum Wattenmeer als Ganzes engagiert, richten die sieben Sylter Gemeinden ihr Hauptaugenmerk auf die wohlstandsmehrenden Touristen und Neubürger. Die Devise lautet: Küstenschutz ist Eigentumsschutz. Nirgendwo sonst in Deutschland werden für den Quadratmeter Wohnfläche so hohe Preise bezahlt wie auf der „Königin der Nordsee“. Sylt symbolisiert eine intakte Welt, wo sich die Erfolge der Erfolgreichen in reetgedeckten Villen von heckenrosenbepflanzten Wällen umgeben widerspiegeln. In Kampen, dem bevorzugten Wohnort, kommen auf 630 Einheimische inzwischen 1.200 Zweithausbesitzer. Bis 2020, schätzt Tourismusdirektorin Birgit Friese, werden nur noch 400 „echte Sylter“ in Kampen leben. Sie versucht die Zweithausbesitzer für die Dorfbelange zu interessieren. „Viele haben inzwischen schon eine Beziehung zum Dorf entwickelt wie Einheimische“, schwärmt sie. Zur Wiedererstarkung des fehlenden Dorflebens – außerhalb der Saison stehen viele Häuser leer – sollen der donnerstägliche Wochenmarkt und ein neuer Lebensmittelladen beitragen, nachdem der Ort jahrelang ohne Einkaufsmöglichkeiten für den täglichen Bedarf auskommen musste.
Für viele Ur-Kampener kommt diese Entwicklung zu spät. Sie haben ihre Häuser verkauft und sind aufs Festland gezogen. Denn in Niebüll oder Sande ist der Wohnraum bezahlbar, und die Infrastruktur stimmt. Am Bahnhof von Klanxbüll, dem letzten Ort vor dem Hindenburgdamm, der Sylt mit dem Festland verbindet, ist der Park-and-Ride-Platz jeden Tag voll. Dirk Schmidt, Geschäftsstellenleiter der Wohnungsbaugesellschaft Gewoba für Niebüll, Sylt und Föhr, erläutert: „Auf Sylt gibt es kaum noch bezahlbaren Wohnraum, deshalb pendeln täglich etwa 3.000 Menschen mit dem Zug.“ Der überschaubare Arbeitsmarkt auf Sylt schafft nicht unbedingt die Einkommen, die notwendig sind, um sich den Luxus des Wohnens vor Ort leisten zu können. Die Gewoba ist mit 900 Wohnungen einer der größten Vermieter auf Sylt – mit wachsenden Wartelisten. Dirk Schmidt würde die Nachfrage nach Wohnraum für Einheimische gerne befriedigen. Aber bebaubare Grundstücke sind knapp und zu teuer, um neue Häuser für ganz normale Familien mit Kindern zu bauen.
In Kampen ist es ihm mit dem Wallhof trotzdem gelungen. Hier wohnen jetzt acht Familien ganzjährig. Das sei ein „Alibiprojekt“ spottet ein Kampener, der nicht genannt werden möchte. Roland Klockenhoff hat weniger Angst, deutlich zu werden. „Der Druck in den Dörfern, Neubauten für Zweithausinteressenten zu errichten, ist enorm.“ Der Vorsitzende der Naturschutzgemeinschaft Sylt beobachtet derzeit mit Sorge einen Bebauungsschub. Eigentlich seien die Siedlungsgrenzen erschöpft, aber weil Sylt als Wirtschaftsmotor Schleswig-Holsteins gilt, wollten die Gemeinden Investoren nicht verprellen: „Plötzlich wird in der an sich geschützten Heide gebaut.“ Dem Ziel, eine durchgängige Tourismus-Saison zu schaffen, würden das Schutzgut Ruhe und die Natur geopfert. „Das Ursprüngliche der Insel geht dabei verloren.“
Als „seit ewigen Zeiten genehmigtes Bauland“ bezeichnet die Kampener Tourismusdirektorin Friese dagegen die Territorien der Neubürger, die den Ort von Jahr zu Jahr vergrößern. Stefan Dobritz verbringt seit 16 Jahren seine Sommer auf Sylt und malt. Er bedauert zwar die Veränderungen, wenn etwa auf seinem gewohnten Weg zum Watt ein 90-jähriger Rosenstock samt niedrigem Friesenhäuschen verschwunden ist und an seiner Stelle ein großes Doppelhaus mit Garagen und gepflasterter Vorfahrt stehe. Aber: „Die Neubauten sind in der Regel geschmackvoll und im Inselstil gehalten. In Kampen pflegt man im Gegensatz zu manchen Großstädten das Schöne.“ Außerdem bewertet der Lübecker es positiv, dass „wohlhabende Deutsche hier auf Sylt bereit sind, mit den Handwerkern vor Ort Millionenobjekte hochzuziehen, anstatt das Geld ins Ausland zu transferieren“. Nur die Spielregeln müsse man einhalten, wünscht sich der Sommer-Sylter. Aber wer legt die Spielregeln fest?
Vergleicht man alte Bebauungspläne und ihre strengen Abstandsauflagen zu Nachbargrundstücken, die Alteigentümern mit der Begründung des Brandschutzes Anbauten verweigerten, mit der heutigen Bebauung, so dürfen die reichen Neubesitzer offenbar größere Flächen der erworbenen Grundstücke bebauen. Oder einem Heidelandbesitzer wird mit dem Hinweis auf den Naturschutz die Bebauung verweigert. Nach dem Verkauf des vermeintlich wertlosen Grundes zu einem niedrigen Preis darf der Erwerber dort plötzlich bauen. „Sylt bietet Rahmenbedingungen, die eine hohe Wertstabilität für Immobilieneigentum garantieren“, heißt es in einem Werbeprospekt. Karsten Reise kann über solche Aussagen nur den Kopf schütteln. „Die Lobbyisten denken einfach zu kurzfristig“, sagt er. Früher hätten die Insulaner auf Kögen und im Inselinneren gebaut. Heute wollten die Menschen ganz nah am Strand oder am Watt wohnen. Aber Häuser in Ablaufgebieten des Wassers würden keine 100 Jahre überdauern. Reise kämpft dafür, die Naturgewalten anzuerkennen und setzt dabei auf die Mithilfe der Touristen, die den empfindlichen Mikrokosmos Sylt besuchen.
In List, nicht weit von seinem Institut entfernt, entsteht ein maritimes Umwelt-Erlebnis-Zentrum. Ab Ende 2008 wird hier eine interaktive Ausstellung über Kräfte der Natur, Klima und Klimaforschung, Dynamik des Lebens und Leben mit den Naturgewalten informieren. Reise kann nur hoffen, dass auch die Mitglieder der Bauausschüsse der Sylter Verbandsgemeinden den Weg dorthin finden werden.