Der Sog des Krieges

GEFÜHLSWELT In „Schönheit und Schrecken“ schildert Peter Englund, Vorsitzender der Nobelpreisjury, Schicksale von Teilnehmern des Ersten Weltkriegs dicht wie in einem Roman

VON MATTHIAS LOHRE

Am Anfang und Ende steht dasselbe Mädchen. Elfriede Kuhr, rotblonde Zöpfe, grüne Augen, ist bei Kriegsausbruch zwölf Jahre alt. In ihrer Heimat, der pommerschen Stadt Schneidemühl, besteigen im heißen Sommer 1914 die ersten Soldaten unter Tschingderassassa und guten Wünschen ihrer Angehörigen die Züge gen Westen. „Das Hurrarufen schwoll zu einem Brausen an“, schreibt Elfriede in ihr Tagebuch, „die Gesichter der Soldaten drängten sich in den offenen Türen, Blumen flogen durch die Luft, und auf einmal fingen viele Menschen auf dem Platz an zu weinen.“

Damit setzt Peter Englund jenen Ton, den sein 700-Seiten-Werk „Schönheit und Schrecken“ bestimmt. Der ehemalige Kriegsreporter zeigt, wie ständige Anspannung und Überforderung die Seelen von 19 Menschen verändern, die den Ersten Weltkrieg durchleben müssen. Sie alle versuchen einzuordnen, was in mehr als vier Kriegsjahren immer weniger zu begreifen ist.

Die Engländerin Florence Farmborough, 27, sieht als Krankenschwester in Russland, wie Offiziere von ihnen verachtete Fußsoldaten in Massen verheizen. Der junge Däne Kresten Andresen steht verständnislos abseits, wenn seine Kameraden in der preußischen Armee gegen alle Wahrscheinlichkeit auf einen deutschen Sieg vertrauen. Rafael de Nogales, ein südamerikanischer Söldner, sucht Bewährung im Kampf und findet den Horror, als er sieht, wie osmanische Truppen armenischen Christen zu Tausenden die Kehlen aufschlitzen. Der Sog des Krieges erfasst sie alle und lässt sie nicht mehr frei.

Zwar ist unüberschaubar viel geschrieben worden über das, was die Jahre 1914 bis 1918 zur Zeitenwende macht: die „Blutmühlen“ der Materialschlachten; die psychischen Verwüstungen ganzer Generationen; und das Erlebnis der „Heimatfront“, an der selbst das Hungern von Säuglingen zur vaterländischen Pflicht erhoben wird.

Aber Englund bringt mit seinem Buch Schattierungen zurück ins öffentliche Gedächtnis, die fast hundert Jahre nach Kriegsbeginn nahezu vergessen sind: Die Euphorie des Sommers 1914 währte nur kurz und war durchwirkt von dunklen Ahnungen. Und das maschinelle Morden fand auch statt in der Wüstenhitze Arabiens, der Eiseskälte der Alpen und den stinkenden Sümpfen Osteuropas. Englund ist wie ein Reporter nah dran: im Schützengraben, Sattel, Zelt oder Lazarett. Ganz unten.

Die 19 Menschen, deren Schicksal Englund anhand von Tagebüchern und anderen Zeitdokumenten nachzeichnet, sind Figuren in einem Spiel, das sie weder verstehen noch beeinflussen können. Ein russischer Offizier irrt mit seinen hungrigen, dezimierten Soldaten im Schlamm und unter Beschuss durch fremde Schluchten. Er überlebt das Gemetzel durch Zufälle. Englund schreibt lapidar: „Das, was man später die Schlacht bei Opatów nennt, ist zu Ende.“

In solchen Momenten ist Englund, der in den 90ern für eine schwedische Zeitung vom Balkan, aus Irak und Afghanistan berichtete, am besten. Das Trockene seines Stils drängt den Lesenden den Horror nicht auf – er entsteht im Kopf, durch Auslassung und Gegenüberstellung. Über eine sinnlose britische Attacke im Feuerregen von Ypern 1915 schreibt Englund: „Der Angriff ist erfolgreich. Die Verluste sind entsetzlich.“

Sinnlich erfahrbar wird das Grauen auch durch Naturbeschreibungen. Viele Kapitel beginnen mit assoziationsreichen Skizzen wie: „Warme Luft. Dunkelheit. Spätsommernacht.“ Manchmal stehen Horror und Idylle gar in einem Satz nebeneinander: Auf dem Marsch zum „Hell Fire Corner“, einem besonders viele Soldaten zerfetzenden Frontabschnitt bei Ypern, „geht die Gruppe auf einem der sonnenwarmen Felder in Deckung.“ Damit steht Englund, der bereits mehrere Bestseller zu historischen Themen geschrieben hat, in der Erzähltradition von Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“.

Mit dem Verhallen des Geschützdonners endet der Horror nicht. Viele ehemalige Frontkämpfer und durch Propaganda erzogene Jugendliche eint eine Weltwahrnehmung, die den Nationalsozialismus erst massentauglich machte: Leben ist Krieg, und Krieg ist Leben. Als die Waffen ruhen, bekommt das Mädchen mit den rotblonden Zöpfen Besuch von einem Freund ihres Bruders. Der Soldat lässt sich auf einen Stuhl fallen und ruft: „Der Krieg ist tot! Es lebe der Krieg!“

Peter Englund: „Schönheit und Schrecken. Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs. Erzählt in neunzehn Schicksalen.“ Rowohlt Verlag, Berlin 2011, 704 Seiten, 34,95 Euro