: Rot vor Fremdscham
PROVINZ IN DER HAUPTSTADT Wer sich Berlin kosmopolitisch cool vorstellt, hat noch nie die „Berliner Abendschau“ gesehen. Da wütet die ganze Piefigkeit des alten Westberlins – mit Geert Wilders und frisch geschlüpften Uhus
VON ULI HANNEMANN
Recht wohlwollend ging die „Berliner Abendschau“ unlängst auf den Besuch des niederländischen Politclowns Geert Wilders ein: „Wilders provoziert, doch wird nie rassistisch oder gar extremistisch.“ Kein kritisches Wort gegen einen, der den Koran mit „Mein Kampf“ vergleicht. Am Ende des Beitrags werden noch zwei Sekunden lang Gegendemonstranten gezeigt, „die mit Wilders so gar nichts am Hut haben“.
Das ist der Geist des alten Westberlins. Ich weiß noch, wie ich Mitte der 80er Jahre aus meinem bayerischen Bergdorf in dieses sagenumwobene Eldorado aus Kreuz- und Schöneberg kam, wo sich David Bowie, Iggy Pop und Christiane F. die Klinke in die Hand und unter Aufsicht der jungen Ärzte die Nadel in den Arm drückten. Legendär, düster, morbide. Kommune I, Linie I, Pink Panther, Milchbar, Ex ’n’ Pop, Pinguin. Ich glaubte mich am Ziel meiner Träume. Bis ich zum ersten Mal die „Berliner Abendschau“ sah.
Rentner vor Zoogehegen
Auf einmal wusste ich, dass ich in der provinziellsten aller Provinzen gelandet war, denn im Vergleich wirkte selbst die entsprechende Sendung des Bayerischen Rundfunks wie ein Hippiemagazin. Jeder Moderator schaffte es mühelos, doppelt so alt zu wirken, wie er war, was die Zahl der Lebensjahre zum Teil nah an den vierstelligen Bereich rückte. Die Berichte waren so banal wie reaktionär. Es war die Welt der Reinickendorfer Beamten und Wilmersdorfer Witwen. Stundenlang wurden Rentner vor Zoogehegen befragt, in denen neugeborene Uhus, Katzen oder Elefanten gezeigt wurden. Auf der anderen Seite wurde jede Form von Gegenkultur mit äußerstem Argwohn beäugt. Wer nur eine Tasse bunt anmalte, galt als Terrorist oder sechste Kolonne Moskaus.
Mit, neben und trotz der „Abendschau“ lernte ich nun die Frontstadt kennen: Kaum verhohlen faschistische Innensenatoren, eine brutale Prügelpolizei sowie ein unnatürlich blasser Bürgermeister, Diebchen oder so, der sich wie das Gespenst eines schlafenden Diktators über Generationen hinweg unauffällig im Sattel seines toten Pferdes hielt. Dazu „Prominente“, wie sie diese „Stadt“ nicht anders verdiente: Harald Juhnke, Brigitte Mira, Rolf Eden, Atze Brauner, Bubi Scholz, Dieter Hallervorden – ein verschnarchtes Gruselkabinett der Durchschnittlichkeit. Iggy Pop und David Bowie hatten offenbar längst die dürren Beinchen in den Arm genommen, und ich ahnte, warum. Ich war einem Schwindel aufgesessen.
An diesem Schwindel strickte die „Abendschau“ fleißig weiter mit, während die Westberliner unheimlich stolz waren auf ihr Westberlin, das damals fast piefiger war als Westdeutschland. Die Legende schützte vor der Wahrheit, dass Berlin eine relativ schmutzige, arme und nicht besonders schöne Stadt war und ist. Der Stolz auf die „eigene“ Stadt bei gleichzeitigem Dissen der Stadt des Anderen gemahnt verdächtig an die Komplexe speziell der Münchener und Hamburger: Frage irgendeinen Berliner, und er findet Hamburg gut. Frage irgendeinen Hamburger, und er findet Berlin garantiert schlecht: ein zwanghafter Abgrenzungsversuch des Pubertierenden gegenüber dem Erwachsenen.
Lieber ein Insekt
Je kleiner die Stadt, desto schlimmer. Ich erinnere nur an einen satirischen taz-Artikel über das in der Tat völlig nichtssagende Dreckskaff Hannover und die zahllosen, erzürnten Leserreaktionen. Dieselben Menschen, die auf das Angebot, man werde ihre Mutter ficken, lapidar „Viel Spaß. Ach ja, und grüß schön!“ antworten würden, reagieren tödlich beleidigt, nur weil sich jemand über ihren Wohnort mokiert. Der übliche Tenor: „Du blöder Berliner Schmierschreiberling: Hannover ist ganz toll und cool und hat über tausend Ampeln und im wahnsinnig bunten Stadtteil Oedefeld habe ich mal einen echten Türken (mit Bart!) gesehen, der Gemüse verkauft, und die Püppi-Bar in Hannover-Schmalhans hat Freitags sogar bis elf Uhr auf – nachts!“
Ich verstehe nicht, wie Leute stolz auf ihre Herkunft sein können, auf etwas also, das weder ihre Schuld noch ihr Verdienst ist. Wie wenig muss man von sich selber halten, um sich mit einer Ansammlung von Häusern, Straßen und öffentlichen Bedürfnisanstalten zu identifizieren. Wenn ich so etwas lese, werde ich rot vor Fremdscham. Ich gehe sogar noch weiter: In solchen Momenten schäme ich mich, ein Wirbeltier zu sein, und wäre lieber ein Insekt, um noch die letzte mögliche Gemeinsamkeit mit dem Schreiber auszuschließen.
Exkurs Ende. Berlin hat sich seit dem Mauerfall zu einer halbwegs weltoffenen Stadt entwickelt. Die CDU kränkelt, Bolle ist pleite, Juhnke ist tot. Die Promis heißen jetzt Fil und Brad Pitt. Nur die „Abendschau“ ist leider immer noch dieselbe.