: Mehr Haut als Gedärm
KUNST Eine neue Ausstellung in der Gesellschaft für Aktuelle Kunst Bremen befasst sich mit Wahrheit und Tiefe von Oberflächen, Täuschungen und Enttäuschungen
VON RADEK KROLCZYK
„Oberflächlich“ ist ein extrem negativ konnotiertes Wort. Man kann sogar sagen, es hätte den Status eines Schimpfwortes. Der „Oberfläche“ ergeht es kaum besser. Sie steht im Verdacht des Scheins. Etwas zu behaupten, aber nichts zu bedeuten, nichts zu sein. Diese Anwürfe haben zu tun mit einem weitverbreiteten Eigentlichkeitsfetischismus, der regelrecht zwanghaften Suche nach etwas „Echtem“, etwas „Innerlichem“.
Nun sind das Innerlichste eines Menschen, seine Gedärme. Angenehmer ist das Betrachten der Haut. Und gerade die Haut kann über das Befinden und den Zustand eines Menschen bestens Auskunft geben. Oberflächen sind inhaltsvoll. Sie erzählen Geschichten. Am heutigen Samstagabend eröffnet in der Gesellschaft für Aktuelle Kunst (GAK) eine Ausstellung, die sich der Würdigung der Oberflächen widmet. „Dealing with Surfaces“, so ihr Titel, behauptet gleichzeitig ihre Wahrhaftigkeit wie die Schönheit der durch sie erzeugten Täuschung.
Formen der Enttäuschung werden in der Ausstellung ebenfalls verhandelt: „Unsere Welt wirkt so kohärent organisiert. Dazu tragen auch bestimmte Prinzipien unserer visuellen Wahrnehmung bei. Die Werke dieser Ausstellung führen uns vor Augen, dass die Dinge nicht immer so sind, wie sie uns erscheinen. Kunst trägt hier dazu bei, einen anderen Blick auf die Welt zu entwickeln“, erläutert Svea Kellner, Kuratorin der Ausstellung, ihren Ansatz. Interessant ist, dass die in der Ausstellung eingesetzten Formen der Enttäuschung niemals spöttisch oder denunziatorisch daherkommen. Ihr Charakter ist spielerischer Art.
Kellner hat für ihre Ausstellung internationale, zumeist jüngere Künstlerinnen und Künstler ausgewählt. Die meisten sind nur wenig bekannt. Es gibt also viel Neues zu entdecken. In allen ausgestellten Werken spielt das Motiv der Oberfläche oder Fläche – das englische Surface enthält beide Bedeutungen – eine zentrale Rolle. Dabei bedienen sie sich sehr unterschiedlicher Mittel und Strategien.
Da wäre zum Beispiel die Arbeit „Line Sculpture #3“ des in Südkorea und New York lebenden Künstlers Jong Oh. Was das Spiel mit Täuschungen anbelangt, ist Ohs Position die wahrscheinlich radikalste innerhalb der Ausstellung. Das Werk besteht eigentlich nur aus einer Plexiglasscheibe und verschiedenfarbigen Fäden. Die Scheibe ist horizontal an eine Wand montiert. Die Fäden sind als Außenlinien weiterer Plexiglasplatten gespannt. Die Täuschung ist perfekt. Anstelle einer einzigen durchsichtigen Scheibe erscheint eine fragile, schwebende Konstruktion aus zwei oder drei Elementen. Nicht dass die Oberflächen die Betrachter täuschen würden. Die Oberflächen selbst sind vorgetäuscht.
Viele der in der GAK ausgestellten Werke haben Orte zum Thema. Die Arbeit von Lars Bergmann etwa bezieht sich direkt auf die Räume der Gesellschaft für Aktuelle Kunst. „After Koenraad Dedobbeleer“, so der Titel, spielt auf die letzte Ausstellung dort an. Bergmann hatte einen Teil der Ausstellungshalle in tagelanger Arbeit mit einem Scanner Stück für Stück aufgenommen: Wände, Fenster, Heizungen und den Fußboden. Die ausgedruckten Scans hat der Jenaer Künstler nun an den entsprechenden Stellen angebracht. Mit dabei: einige inzwischen abgebaute Arbeiten des Künstlers Koenraad Dedobbeleer.
Nachbilder sind auch das Thema der dänischen Künstlerin Marie Lund. In einem Gebäude der Technischen Universität Kopenhagen, das lange leer stand, bevor es schließlich abgerissen wurde, fand Lund vor den Fenstern blaue, von der Sonne ausgebleichte Vorhänge. Die Künstlerin hat sie wie Leinwände auf Keilrahmen gespannt. Man kann an der farblich veränderten Struktur der Stoffe die Falten nachvollziehen, in denen die Vorhänge vor den Fenstern hingen. Zu sehen sind helle filigrane Strukturen, die sich wie das Geäst von Bäumen über den blauen Hintergrund erstrecken. Tatsächlich hat sich hier die Geschichte in die Oberfläche eingefressen und ist zum Bild geworden.
Ebenfalls um die Geschichte von Orten kreist die Fotoserie „The Kid“ des israelischen Künstlers Ariel Schlesinger. Zu sehen sind gerahmte Farbaufnahmen baufälliger Fenster – durchsichtige Oberflächen also. Die fotografierten Scheiben weisen deutliche Strukturen auf. Sie sind schmutzig und beschädigt. Dahinter erstrecken sich verschwommene Landschaften. Bei genauerem Hinsehen stellt man fest, dass sich die Muster aus Schmutz und gesprungenem Glas auf der Scheibe des Rahmens wiederholen. Und tatsächlich hat Schlesinger seine fotografierten Scheiben in die Rahmen eingefasst. Täuschungen können sehr poetisch sein, und Oberflächen in die Tiefe gehen.
■ Eröffnung: Samstag (heute), 19 Uhr, bis 12. April, Gesellschaft für Aktuelle Kunst