: Diese Prosa schockt einen total
Achtung! Euch interessiert nur noch die Finsternis. Der abgefahrenste Roman der Saison: Mark Z. Danielewskis Metahorror „Das Haus – House of Leaves“ lehrt uns das Fürchten auf zweiter Stufe
VON JAN SÜSELBECK
Selten wurde in einem Buch schon gleich zu Beginn so oft davor gewarnt, es zu lesen, wie in Mark Z. Danielewskis Metaschocker „Das Haus – House of Leaves“. Und genauso selten war man so begierig, genau das zu tun – und zwar sofort.
Sobald man den schwergewichtigen, über 800-seitigen Band aufgeschlagen und die geheimnisvolle Vorwortnotiz anonymer „Herausgeber“ passiert hat, stößt man auf eine Seite mit dem lakonischen Satz: „Das hier ist nicht für euch.“ Das schreibt ein Mensch namens Johnny Truant, Praktikant in einem Tattoo-Studio in Hollywood. Seine folgende „Einleitung“ signalisiert, dass es jedem, der seine Warnung missachtet, am Ende genauso gehen könnte wie ihm: „Ich bin so müde. Der Schlaf treibt mich jetzt schon dermaßen lange vor sich her, dass ich mich gar nicht mehr erinnern kann, wann das angefangen hat. Und daran wird sich wohl auch nichts mehr ändern.“
Wer dennoch weiterblättere, dem drohe dies: „Euch interessiert nur noch die Finsternis, und die beobachtet ihr stundenlang, tagelang, vielleicht sogar jahrelang, und vergebens redet ihr euch ein, ihr wärt so was wie die unentbehrlichen, vom Universum selbst berufenen Wächter, als könntet ihr wahrhaftig allein durch euer Schauen alles im Zaum halten. Das wird so schlimm, dass ihr Angst habt, wegzuschauen, Angst, zu schlafen.“ Nun gut. Literaturkritiker haben die Aufgabe, an solchen Stellen die Ärmel hochzukrempeln, die Lesehöhlenlampe auf die Stirn zu schnallen und sich furchtlos auf ins Dunkel zu machen, um Licht in die Angelegenheit zu bringen. Hier die gröbsten Umrisse dessen, was die Expedition zutage förderte – nämlich den abgefahrensten Roman des Jahres.
Und den kompliziertesten. Protagonist Truant wird zum zufälligen Nachlassverwalter eines blinden Alten namens Zampanò, der ein Unmenge von Zetteln und Notizen zurückließ. Die Umstände von Zampanòs Tod sind von unheimlichen Indizien umgeben, die Truant dazu animieren, sich immer mehr mit den bizarren Gedanken des Verstorbenen zu befassen – samt den oben geschilderten Folgen. Aus Truants kompilatorischen Bemühungen resultiert Danielewskis zentrale Erzählung, der sagenumwobene „Navidson Record“.
Dabei handelt es sich um die philosophische, natur- und medienwissenschaftliche Beschreibung eines angeblich bereits von einer umfangreichen Sekundärliteratur untersuchten Films gleichen Titels, den ein mit dem Pulitzerpreis ausgezeichneter Fotojournalist in seinem Familienhaus in der Ash Tree Lane zu Charlottesville, Virginia, gedreht haben soll. Navidson dokumentiere darin, kolportiert Zampanò unter Berufung auf zahllose Publikationen, wie er und seine Familie damit umgehen, dass ihre Villa kurz nach ihrem Einzug plötzlich von innen größer ist als von außen: Im Wohnzimmer öffnet sich eines Tages ein dunkler Korridor, der in ein Labyrinth sich ständig verändernder, lichtloser Räume, Hallen und zu einer ins schiere Nichts hinabführenden Wendeltreppe führt. Navidson rekrutiert ein kleines, perfekt ausgerüstetes Architektur-, Berg- und Höhlenforscherteam, um dem beängstigenden Phänomen auf den Grund zu gehen. Mit grausigen Folgen.
Nicht nur Zampanòs Schrift enthält eine Unzahl akribischer Fußnoten. Truant ergänzt diese abermals durch Anmerkungen und abschweifende Erzählungen, die wiederum von den ominösen Herausgebern kommentiert werden – also mit Paratexten zu Paratexten zu Paratexten. Danielewski, studierter Literaturwissenschaftler und Sohn eines polnischen Filmregisseurs, ironisiert damit nicht nur gängige Formen akademischen Schreibens, sondern lässt seinen Roman darüber hinaus von Seite zu Seite immer komplexer werden. Seine hybride Prosa strotzt nur so vor Querverweisen zu im Anhang befindlichen „Beweisstücken“, Collagen, Briefen, Zitaten, Gedichten und Aphorismen.
Das schon optisch beeindruckende Konvolut wartet zudem mit typografischen Finessen auf: wechselnde Schrifttypen, mehrspaltige Textpassagen auf Deutsch, Englisch, Französisch und – als kleine Beigabe der Übersetzerin Christa Schuenke, die schließlich selbst vom Navidson-Wahn erfasst worden zu sein scheint – auf Otjiherero (S. 666); Elemente konkreter Poesie, mitten im Text von hinten nach vorne verlaufende Biblio- und Filmografien, Namenslisten, Palimpseste, Kästen mit spiegelverkehrt gedrucktem Wortlaut …
Wie der englische Titel andeutet, wird Danielewskis Buch damit selbst zum papiernen Haus, zu einem unheimlichen Blätterlabyrinth als textuellem „Widerhallraum“ (Roland Barthes), in dem man sich auch als Leser schnell verirren kann. Schon nach wenigen Seiten möchte man mehrere Dissertationen über den Roman in Angriff nehmen – nicht zuletzt deshalb, weil der Autor eine Fülle abgefeimtester poststrukturalistischer oder auch psychoanalytischer Deutungen und intertextueller bzw. intermedialer Querverweise gleich selbst lanciert.
Damit setzt er seinen Text, der alle nur irgend verfügbaren Einflüsse wie ein Schwarzes Loch verschlingt, ans Ende der intertextuellen Nahrungskette. Schon allein mit der satirischen Fußnotenstruktur greift er eine moderne Romantradition auf, die mit Laurence Sternes „Tristram Shandy“ (1759–1767) begann und im 20. Jahrhundert von Autoren wie Arno Schmidt („Die Gelehrtenrepublik“, 1957) und Vladimir Nabokov („Pale Fire“, 1962) radikalisiert wurde.
In Danielewskis Textraum vernimmt man darüber hinaus (explizite) Echos aus Gustav Meyrinks „Golem“ (1915), Edgar Allan Poes „Arthur Gordon Pym“ (1837) und H. P. Lovecrafts „Bergen des Wahnsinns“ (1936) – um nur einige zu nennen. Diese überaus reflektierte Struktur seiner filmisch anmutenden Prosa-Schnitt-Technik macht das Werk zu einem Schauerroman auf höherer Stufe. Der Autor fantasiert gnadenlos aus, was Thomas Bernhard in seinem „Stimmenimitator“ (1978) einmal auf einer einzigen, beunruhigenden Seite kondensierte: Dort geht es um eine österreichische Grotte, in die nacheinander drei immer besser ausgerüstete Höhlenforscherteams eindringen. Als auch die dritte Gruppe, die die ersten beiden retten sollte, spurlos verschwunden bleibt, lässt die Landesregierung die Höhle zumauern. Aus.
Seien Sie also gewarnt. Aus Danielewskis Buch gibt es kein Zurück. Ich bin auch nicht mehr herausgekommen.
Mark Z. Danielewski: „Das Haus. House of Leaves“. Aus dem Englischen von Christa Schuenke. Klett-Cotta, Stuttgart 2007, 827 Seiten, 29,90 €