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Archiv-Artikel

Rosenkranz und Rüstung

Das Klischee hält sich hartnäckig: Oberschwaben ist Bauernland, tiefschwarz und stockkatholisch. Nichts aber ist wahr ohne sein Gegenteil. Das Land zwischen Ulm und Bodensee, Sigmaringen und Wangen ist Hightech, grün und voller Freidenker. Eine Reise durch Oberschwaben, der dritte Teil der Landvermessung

von Josef-Otto Freudenreich

Ausgestattet mit einem Rosenkranz, sauberen Schuhen und einem sauberen Hals zogen wir aus, um nach Maria Steinbach zu fahren. Ausgangspunkt war der Bahnhof in Waldsee, wo wir in einen Schienenbus stiegen, über Kißlegg und Leutkirch reisten und in Aichstetten den Zug verließen, nachdem wir hinter uns die roten Ziehharmonikatüren zugezogen hatten. Jetzt hieß es noch sechs Kilometer pilgern, viele „Vater unser“ und „Gegrüßet seist du Maria“ zu beten, bis wir bei der „Schmerzensmutter“ mit der durchbohrten Brust angekommen waren. Das war das Ziel. Die Maria, die ihre Gesichtsfarbe wechselt, Augen und Lider bewegt und Tränen weint.

Ob wir das damals geglaubt haben? Schwer zu sagen, weil unsere Welt aus vielen Wundern bestand. Das ganze Oberschwaben war voll von Gesundbeterinnen, umherfliegenden Geistern, unstandesgemäßen Liebschaften, und gegen alles halfen diese Wallfahrten. Warum also sollte die Mater dolorosa nichts Mirakulöses bewirken, wie die katholische Kirche schon 1730 festgestellt hat? Und weil sie auch noch in Steinbach zu Hause war, durfte der Pilger erwarten, dass er dort seine Last, sprich seine Steine, loswerden konnte.

Einer Erscheinung waren wir uns aber ganz sicher. Sie hörte auf den Namen Löwen und war ein Gasthaus, in dem es etwas gab, das uns wie Gotteslohn dünkte: Leberkäswecken und Sinalco und eine Kegelbahn. Von allem hatten wir Kinder im alltäglichen Leben Anfang der 60er-Jahre zu wenig, wodurch die Bereitschaft, ja das Drängen, wallfahren zu gehen, enorm gesteigert wurde. Später sind wir dann nicht mehr so gerne nach Steinbach gepilgert.

Die Enge zwischen den Zwiebelkirchtürmen

Das hatte wahrscheinlich damit zu tun, dass andere Glaubenskrieger verkündeten, Religion sei Opium fürs Volk, worauf es nicht mehr opportun erschien, mit dem Rosenkranz durch die Gegend zu laufen. Das war die Zeit, in der man kein Auge mehr für die Kreuze auf den Drumlins hatte, jene walfischförmigen Rundbuckel, die diese Landschaft prägen. Man sah eher die Schlösser auf den Hügeln, von wo aus die Herren auf ihre Knechte herunterschauten. Man erkannte ihre politischen Vertreter, die alles fangen und heben wollten, was nicht bei drei im Beichtstuhl war und die CDU wählte.

Der Biberacher Landrat Wilfried Steuer war so einer. So katholisch, dass er sogar ein eigenes Kreuz brauchte. Man spürte schmerzhaft die Enge zwischen den Zwiebelkirchtürmen, das Beharren auf Brauchtum und Tradition, das in Musikkapellen, Schützenvereinen, fürstlichen Wäldern und Bekenntnisschulen festgeklopft wurde, als gelte es, ein Bollwerk gegen alles Fremde aufzubauen.

Dieser Oberschwabe ward uns zum Feind, zum Ewiggestrigen, zum verhockten Bruder, der allenfalls zur Fasnet zum Mensch wurde. Wer etwas auf sich hielt, musste aus dieser Hölle raus. Nach Tübingen mindestens oder nach Stuttgart, wo die Theologie der Befreiung („Hoch die Kanzel, tief der Verstand, Kampf dem schwäbischen Oberland“) oder die lebenslange Kehrwoche („Let's putz“) winkte. Dass beides ziemlicher Unfug war, sollten wir erst später merken. Es ist wohl eine Frage des Alters, diese Menschen und ihren Landstrich begreifen und schätzen zu lernen. Denn: nichts ist ohne sein Gegenteil wahr.

Der Oberschwabe mag ein Dickkopf sein, mancher gar ein Holzkopf. Aber er ist nicht blöd, wie die Stuttgarter gerne glauben (machen möchten). Er haust nicht hinter den sieben Bergen, wo er erst durch die schwäbsche Eisebahne zivilisiert wurde, oder um es mit dem Spott des Bodensee-Anrainers Martin Walser auszudrücken: „Unser Mittelalter hat jetzt elektrisch Licht.“ Der Oberschwabe ist nur nicht der Pietist, der verzichtet und leidet und das Ende der Zumutungen erst im Himmel erwartet. Er ist bockig wie der Rebell von Ravensburg, der Schullehrer Rudolf Bosch, der für die Gesamtschule kämpft. Er ist sündig wie der Künstler Manfred Scharpf, der böse Sachen sagt und mit Vorliebe nackte Frauen malt. Und er ist liberal-barock wie der Landrat Kurt „Jack“ Widmaier, der die Nackten in seinem Amtszimmer hängen hat.

Das hat sich sogar schon bis zum Hamburger Stern herumgesprochen, dem der schwarze Jack eine lange Geschichte wert war. Nur weil er in seiner Funktion als Chef der Oberschwäbischen Elektrizitätswerke OEW gesagt hat, dass er kein Atomdepp sei. Fortan war Widmaier der „Green Jack“, worüber sich mein Schulkamerad Kurt gewiss gefreut hat, auch wenn's nur ein Teil der Wahrheit ist. Das Schlitzohr hat einfach gemerkt, dass Grün im Trend liegt, und eine geistige Flexibilität an den Tag gelegt, die er sich bei den Benediktinern abgeguckt hat. Und die sind wichtig, um Leute wie den Landrat zu verstehen.

Die Ordensbrüder in der braunen Kutte waren schon immer für erneuerbare Energie. Während der Pietist vom Neckar die Fron der Arbeit zum Prinzip erhob, jeden Tag die Angel zum Fangen eines Fisches auswarf, in der Hoffnung, das einer anbeiße, legten die Benediktiner künstliche Fischteiche an. So mussten sie nicht fasten, wurden ruhig und rund – wie Widmaier, der diesen Menschenschlag wie kaum ein anderer verkörpert. Schaffig schon, aber auch lebenslustig, mit einem Hang zum Vergnügen, das sich insbesondere zu Fasnetszeiten „auf unsittliche Weise“ äußert, wie alte Quellen behaupten. Widmaier sagt, seine Landsleute seien die glücklichsten Menschen in Deutschland. Statisch abgesichert, natürlich.

Warum also keine Windräder auf dem Bussen, dem heiligen Berg Oberschwabens? Dorthin ziehen die Pilger immer noch, um reichen Kindersegen zu erbeten. Der Bussen als Symbol von Moderne und Tradition. Das würde bestimmt auch Ministerpräsident Winfried Kretschmann gefallen, der nur wenige Kilometer von der heiligen Stätte entfernt, in Riedlingen, in die Schule gegangen ist. Gemächlich kreisende Windräder vor gelbem Löwenzahn. Was für eine Symbolik im Turbokapitalismus, was für ein Signal an die Rastlosen, die im Hamsterrad dem Glück nachjagen? Die scheinbare Rückständigkeit der Oberschwaben wandelte sich zum Zukunftsmodell: Es geht um Leben, nicht nur ums Überleben.

Der Sprengstoffgürtel um den Bodensee

Das Bild vom windkraftbetriebenen Bussen ist noch Vision, zugegeben, aber keine Fantasterei. Das mögen die Altwürttemberger glauben, die am Wochenende über die A 81 an den Bodensee brettern, um dort ihre Ferienwohnungen zu beziehen oder ihre Boote zu entern. Sie lassen links liegen, wovon sie wissen müssten, wenn sie etwas lernen wollten. Möglicherweise würden sie auf Biohöfe und Bioläden, alternative Magazine und Blogs und auf Manfred „Manne“ Lucha und Agnes Malczak stoßen. Der eine hat einen Ring im Ohr, die andere ein Piercing in der Lippe. Keine Freaks. Der eine ist Abgeordneter im Landtag, die andere sitzt im Bundestag. Beide Grüne, beide in Ravensburg, und dort hat die Partei 30 Prozent.

Irgendjemand muss sie wohl gewählt haben, den gelernten Sozialarbeiter, der den „Jack“, den Landrat, duzt, und die 26-jährige Politikstudentin, die man sich, mit ihren roten Haaren und dem knalligen Lidstrich, so gar nicht in der Kirchenbank vorstellen kann. Aber beide können sogar mit den Bauern. Deren Braunvieh prägt die Idylle, die man von Postkarten her kennt. Die sanft geschwungenen Hügel, saftigen Wiesen, kleinen Weiher und dunklen Moore und natürlich die Kirchen und Klöster. Sie suggerieren das Himmelreich des Barock, das Irdisches wegzuglänzen scheint und dennoch überall zugegen ist. Die Industrie. Keine rauchenden Schlote, gut, aber Liebherr, Ratiopharm, Weishaupt, Hymer. Alle große Nummern im Business.

Nicht zu vergessen den Sprengstoffgürtel um den Bodensee, wo sich die Crème der deutschen Rüstungsbetriebe zwischen Äpfeln und Hopfen niedergelassen hat: ZF, MTU, EADS, Liebherr-Aerospace, Rheinmetall usw. Hier arbeiten Tausende von Menschen, und hier werden Milliarden umgesetzt, unter anderem mit Motoren für Panzer, Hubschrauber und U-Boote. Der Tourist merkt davon nichts, weil die Namen künstlich, die Hightechschmieden sauber und die Endprodukte weit weg sind. Es sei denn, er schaut sich den Rüstungsatlas Bodensee (www.waffenvombodensee.com) an – oder erinnert sich an die jüngsten Meldungen, nach denen in dem gesegneten Landstrich an ein atomares Endlager gedacht wird.

Spätestens dann wird die Schmerzensmutter Maria wieder Tränen weinen.