: Unter Leistungsdruck
CURLING Von der Pleite bedroht, versucht sich der deutsche Verband neu zu erfinden. Orchestriert wird das Projekt von Bundestrainer Thomas Lips
AUS RHEINMÜNSTER FRANK KETTERER
Der Bundestrainer war zufrieden, jedenfalls tat er das so kund. Drei Tage lang hatte Thomas Lips die besten deutschen Curler und Curlerinnen bei ihren nationalen Meisterschaften auf den Eisbahnen des Baden Hills Golf und Curling Clubs in Hügelsheim mit Argusaugen beobachtet, seine abschließende Beurteilung formulierte der Mann aus der Schweiz ebenso wohlwollend wie hoffnungsvoll: „Die Qualität der Spiele hat sich erheblich gesteigert. Mir ist um die Zukunft des Curlings in Deutschland nicht bange.“
Derart positiv wurde schon lange nicht mehr über die deutschen Curler gesprochen. Nach dem sieglosen letzten Platz von John Jahr bei den Olympischen Spielen in Sotschi – die deutschen Frauen hatten sich erst gar nicht qualifiziert – stand die Sportart mehr oder weniger vor dem Aus, zumindest was ihre leistungssportliche Ausrichtung betraf. Mitte Oktober wurde bekannt, dass der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) dem Deutschen Curling-Verband (DCV) wegen fehlender Erfolgsaussichten bei sportlichen Großereignissen die Förderung von rund 400.000 Euro pro Jahr streichen würde.
Erst die überraschende Aufstockung des staatlichen Sportfördertopfs durch das Bundesinnenministerium um 15 Millionen Euro für den gesamten deutschen Sport sicherte den Curlern das Überleben, vorläufig und unter Auflagen. „Wir haben uns mit dem DOSB dahingehend verständigt, dass wir die Rahmenbedingungen für unseren Sport weiter professionalisieren und den Fokus auf junge, vielversprechende Talente legen“, sagte DCV-Präsident Dieter Kolb zu der Rettung in letzter Sekunde.
Der Mann, der die Funktionärsworte in die Tat umsetzen soll, ist Thomas Lips, der Bundestrainer. Er war nicht nur als Aktiver selbst Europameister (2006), sondern führte als Trainer die Schweizer Männer sowie die Frauen aus der Schweiz und Russland zu Medaillen bei EM, WM und Olympischen Spielen. Sein neuester Auftrag, die deutschen Curler zurück in die erweiterte Weltspitze zu führen, dürfte sein bislang schwerster sein. „Ich wusste, auf was ich mich einlasse“, sagt Lips ungerührt.
Dabei ist ihm bewusst, dass für die sportlichen Erfolge, die von ihm erwartet werden, eine Optimierung der gesamten Verbandsstruktur vonnöten ist. Das wurde vom DOSB auch eingefordert. „Die Grundförderung in ihrer bisherigen Art ist nicht mehr vorhanden.“ Stattdessen wurde das „Projekt Curling“ ins Leben gerufen. Das Budget dafür liege ein bisschen über den bisherigen 400.000 Euro jährlich, ist aber nicht bis zum Ende des laufenden Olympia-Zyklus im Jahr 2018 garantiert. Stattdessen wird das Projekt jährlich begutachtet.
„Das erste Jahr ist gesichert. Jetzt beginnt die Arbeit“, sagt Lips. Eine der neu geschaffenen Voraussetzungen: mindestens 15 Stunden Training pro Woche. „Bislang“, sagt er, „waren solche Kriterien so gut wie nicht vorhanden.“
Aufweichen will Lips auch die im DCV bislang übliche Praxis, nach der das aktuell beste Vereinsteam automatisch auch die Nationalmannschaft stellt. Nun, unter Lips lautet das Credo: „Die Nationalmannschaft kann identisch mit dem besten Vereinsteam sein, muss es aber nicht.“ Bei den Männern gehören die Curler aus Baden um Skip Alexander Baumann, gerade deutscher Meister geworden, und aus Hamburg zu Lips Lieblingen, bei den Frauen steht eine solche Entscheidung noch aus. „Das ist ein delikates Thema“, sagt der Bundestrainer, wissend um die Animositäten, die es zuletzt gab. Lips will darauf keine Rücksicht nehmen. Er sagt: „Wir wollen längerfristig etwas aufbauen. Bei einem Aufbau muss man Opfer bringen. Opfer bringen heißt immer auch, dass es Leute gibt, die das nicht lustig finden.“
Vor allem Andrea Schöpp vom SC Riessersee dürften diese Sätzte in den Ohren klingeln. 50 wird die ehemalige Weltmeisterin in diesem Monat. Dass sie noch immer zu den besten deutschen Curlerinnen zählt, hat sie mit dem Gewinn der nationalen Meisterschaft bewiesen. Aber die Zukunft gehört anderen: „Wir müssen uns fragen, mit welchen Sportlern wir die Olympischen Spiele 2022 angehen wollen.“