: Der Traum der Näherin
Berlins Modeszene besteht nicht nur aus Designern, sondern auch aus denen, die fernab des Rampenlichts die Modelle der jungen Kreativen nähen. Wie Susanne Schuster: Die junge Schneiderin kam vor einem Jahr von Freiburg nach Berlin. Um Aufträge muss sie sich längst keine Gedanken mehr machen
VON JULIANE SCHUMACHER
In der Nacht hat es zum ersten Mal gefroren, und Susanne Schuster hat den Ofen angeheizt. Im Zimmer zum Hof glüht die Kohle hinter den eisernen Klappen des Kachelofens, aber fürs Zimmer zur Straße hat sie teure Holzbriketts gekauft, „die aschen weniger“. Das ist wichtig, wegen der Stoffe. Denn die Zwei-Zimmer-Wohnung im ersten Stock ist Wohnung und Atelier zugleich: Hier schläft und isst Susanne Schuster, aber hier arbeitet sie auch, schneidet, bügelt, näht. Manchmal verlässt sie die Wohnung tagelang nicht, wenn sie viel zu tun hat. Und das hat sie fast immer, zum Glück.
Susanne Schuster ist 26, sie ist Schneiderin und nach Berlin gekommen, um sich selbstständig zu machen. Denn das, sagt sie, ist als Schneiderin gerade nirgendwo so leicht wie hier. Acht Modeschulen, geschätzte 800 junge Designer, die meist nicht die Zeit oder nicht die Fähigkeit haben, die entworfenen Modelle selbst zu nähen: Die Hauptstadt bietet viel Arbeit für ein Handwerk, das anderenorts am Aussterben ist.
Erfahren hat sie das im vergangenen Oktober, als sie eine Freundin in Prenzlauer Berg besuchte. Dass in Berlin „an jeder Ecke eine kleine Boutique ihre Modelle verkauft“, war ihr auch bei früheren Besuchen aufgefallen. Dieses Mal fragte sie in zwei Läden um die Ecke, ganz unverbindlich: ob es hier Arbeit für eine Schneiderin gebe? Im ersten Laden bot man ihr sofort an, 50 Pullover zu nähen. Im zweiten Laden traf sie eine Schneiderin, die ihr erzählte, dass sie in Arbeit fast ersticke. So entstand die Idee, die sie ein halbes Jahr später in die Tat umsetzte.
Raus aus dem Idyll
Im März verließ sie das Freiburger Idyll und die große WG, in der sie zuletzt wohnte. Mietete eine Wohnung im Norden Neuköllns, beantragte einen Gründerzuschuss beim Arbeitsamt, meldete ein Gewerbe an. „Als Schneiderin ist das einfach, man braucht dazu ja nicht viel mehr als eine Nähmaschine.“
Sie selbst hat davon allerdings gleich drei. Die stehen, eine hinter der anderen, auf drei Tischen: eine Handwerkermaschine, ein Schnellnäher, eine weitere Industriemaschine. Susanne Schuster setzt sich, zieht an einem Faden, tritt das Pedal, um zu zeigen, mit welcher Geschwindigkeit die Nadel in die Stoffe sticht. Vor dem Fenster segeln die gelben Blätter eines Baumes auf die Straße, zwei Oberkörper aus schwarzem Stoff sehen ihnen zu. An einer Stange reihen sich die Modelle, die sie zuletzt genäht hat, auf einem Bord, fein säuberlich sortiert, stapelt sich Garn in verschiedenen Farben. Das „Bügel-Center“ hat sich Schuster sich vom Gründer-Zuschuss gekauft. „Viele Leute glauben gar nicht, wie viel Zeit man beim Nähen für das Bügeln der Stoffe braucht“, sagt sie.
Susanne Schuster ist im Schwarzwald aufgewachsen. Das hört man manchmal noch, wenn sie redet. Nähen war lange Zeit ihr Hobby, Kostümbild wollte sie nach dem Abitur studieren. Aber die Mappe, mit der sie sich an der Kunsthochschule bewerben wollte, wurde zu spät fertig. So begann sie zunächst eine Ausbildung bei einer Maßschneiderin in Freiburg. War fasziniert vom Handwerk, von dem Gefühl, wie etwas unter den eigenen Händen entsteht. Und blieb dabei.
Ein Studium könnte sie sich heute nicht mehr vorstellen. Aber weiter lernen wollte sie, das wurde ihr klar während ihres ersten Jobs in einem Second-Hand-Laden in Freiburg. Selbst Schnitte herstellen, sie den Größen anpassen. An der Berliner Fachhochschule für Technik und Wirtschaft haben Gasthörer die Möglichkeit, an den Schnittkursen der Designstudenten teilzunehmen. Bis jetzt hat Schuster dafür bloß keine Zeit gehabt.
Nein, einfach sind die ersten Monate in Berlin nicht gewesen. Ihr Freund, der mit ihr herziehen wollte, entschied sich eine Woche vor dem Umzug, in Freiburg zu bleiben. Sie, die immer mit vielen Menschen zusammen gewohnt hatte, die den Wald liebte und die Ruhe, fand sich allein wieder in der großen Stadt. Wo über jede Straße Massen von Leuten ziehen, alle Kreuzungen immer voll sind, wie sie noch jetzt, nach Monaten, bestürzt bemerkt. Wo es eine halbe Stunde dauert, „mal rauszukommen“, um im Grünen spazieren zu gehen. Ein, zwei Jahre hat sie sich gedacht, könne sie es in Berlin wohl aushalten. Länger auf keinen Fall.
Aber während sie sich mühsam arrangierte mit der Stadt, mit der Fernbeziehung, die sie doch nicht wollte, lief ihr kleines Unternehmen blendend an. Mit Visitenkarten zog sie los, kaum dass sie die Zulassung von der Handwerkskammer hatte. In Mitte, Prenzlauer Berg, Friedrichshain wollte sie nach Aufträgen fragen. Weit kam sie nicht. Kaum 20 Karten hatte sie verteilt, da reichte die Arbeit für die ersten Wochen. Wie von allein ergibt sich das bis heute: Meist ruft genau, wenn sie mit einem Auftrag fertig ist, der nächste Kunde an. „Das wäre so woanders niemals möglich gewesen“, sagt Schuster, und sie lacht und schüttelt leicht den Kopf, als könne sie es manchmal selbst noch nicht ganz glauben, dass sie jetzt hier ist, in Berlin, und so viel Arbeit hat.
Musterstücke hat sie zu Beginn meist genäht, der Prototyp eines Entwurfs, an dem dann geprüft wird, was noch verändert werden muss. Brautkleider kamen dazu und Einzelstücke für den Verkauf.
Viele Meister
Jeder Designer hat seinen eigenen Stil, seine Methoden, auf die sie sich einstellen muss. „In der Ausbildung lernt man zu nähen, wie es der Meister macht. Aber jetzt habe ich nicht einen, sondern viele Meister.“ Ihr gefällt das, es macht die Arbeit spannend. „Seit ich hier bin, habe ich sehr, sehr viel gelernt.“
Nicht nur neue Techniken. Auch selbstbewusst aufzutreten, zu verhandeln. Einen Arbeitsrhythmus zu finden, sich freie Stunden und Tage einzuplanen. Die Zeit einzuschätzen, die es braucht, um ein Stück zu nähen. Beim ersten Auftrag saß sie doppelt so lang, wie sie erwartet und im Kostenvoranschlag geschrieben hatte. Ihr blieb nichts übrig, als die Designerin anzurufen. Für die war es selbst die erste Kollektion, beide teilten sich die zusätzlich entstandenen Kosten.
Nein, von oben herab sei sie nie behandelt worden, sagt Schuster. „Viele der jungen Designer haben sich auch gerade erst selbständig gemacht, sind selbst noch am Lernen und freuen sich über Verbesserungsvorschläge.“ Nur müssen gerade die kleinen Ladenbesitzer selbst auf jeden Cent schauen: Den Auftrag eines jungen Designers aus Friedrichshain hat sie kürzlich nicht bekommen. „Er hat jemanden gefunden, der es für die Hälfte macht.“
Schuster verlangt einen Stundenlohn von zehn Euro. Für weniger, hat sie sich vorgenommen, möchte sie nicht arbeiten. Zehn Euro, das ist nicht üppig, wenn man eigentlich einen Teil zurücklegen müsste, weil man als Selbstständige nicht in die Rentenkasse zahlt. Aber es reicht vorerst zum Leben, für die Krankenkasse, für die drei Wochen Urlaub, die sie sich bald gönnt.
Es müsste auch reichen für den kleinen Traum, der gewachsen ist in all den Tagen, die sie allein mit den Stoffen, Nadeln und Scheren in ihrem Zimmer saß: sich mit anderen Schneiderinnen ein Atelier zu teilen, zu zweit oder zu dritt. Wieder einen Arbeitsweg haben, frische Luft und mehr als drei Schritte, die die Nähmaschine von Bett, Schreibtisch und Küche trennen. Vor allem möchte sie nicht mehr allein arbeiten, möchte endlich Menschen kennen lernen in Berlin, dieser sperrigen Stadt, in der sie wohl länger als zwei Jahre bleiben wird.