: Nashörner und SheriffsAsphaltdschungel
Das Hansaviertel der Zukunft: fünf Prophezeihungen zum 100. Geburtstag im Jahr 2057
Knapp ein Jahr nachdem die letzten Bewohner des Hansaviertels ihre Häuser verließen, wird nun der gleichnamige Safari-Park eröffnet. Das Land Berlin macht damit aus der Not eine Tugend. Grund für die Massenflucht der „Hanseaten“: Sie fühlten sich durch Tiere belästigt, die aus dem nahe gelegenen Berliner Zoo ausgebrochen waren. Die üppige Vegetation des Wohnviertels ließ den Suchmaßnahmen der Stadt damals keine Chance. Bereits 2007, im Jahr des 50-jährigen Jubiläums, waren viele der ursprünglich freien Flächen zugewuchert. Heute gleicht das Gelände einem Urwald – ein idealer Unterschlupf für flüchtige Tiere. Nun besetzen Inkakakadus die Balkonbrüstungen, Japanmakaken turnen an den Fassaden, Rotnacken-Wallabys grasen auf den Wiesen. Eine ehemalige Bewohnerin des Egon Eiermann-Hauses berichtet, einmal habe ihr ein schlafendes Breitmaulnashorn den Zugang zum Haus versperrt. Das Land ließ das verlassene Gelände schließlich abriegeln. Der neue Freiluftzoo bietet hervorragende Aussichten auf Pflanzen und Tiere – zum Beispiel aus dem 17-stöckigen Baldessari-Haus.
Eva-Maria Träger
Künstlerkolonie
Im Jahr 2007 wohnten im Hansaviertel noch viele Rentner und Architekten. Doch die Berichterstattung der taz zum 50-jährigen Jubiläum der Interbau-Häuser machte viele Künstler auf das Leben in der Oase aufmerksam: Hunderte Filmemacher, Fotografen und Maler zogen in den folgenden 50 Jahren ins Hansaviertel. Optimal genutzt wird seit 2037 das Hochhaus „Giraffe“: Alle Einzimmer-Apartments beherbergen Ateliers der Künstler. Jeden Freitag treffen sich die ortsansässigen Kulturschaffenden in der Akademie der Künste, um die Bewohner des Viertels über ihre aktuellen Projekte zu informieren. Auch im Einkaufszentrum widmet man sich der Kunst: Eine Malerin verziert Teller und Vasen mit architektonischen Motiven des Hansaviertels und bietet sie zum Verkauf an. Ein Bäcker führt neben Brötchen auch Souvenirs für Touristen. Die Spezialität des Hauses: die achtstöckige „Oscar-Niemeyer-Torte“. Derzeit setzt sich der Bürgerverein mit bunten, selbst gestalteten Plakaten für ein Schild ein, das zum 100. Geburtstag an der südlichen Zufahrt dauerhaft aufgestellt werden soll: „Ehemals Hansa-, heute Künstlerviertel“. Die Bewilligung des Senats steht noch aus. Vorerst feiern die Bewohner am Freitag, den 20. November, in der Akademie der Künste die Premiere des Films „Moderne III“. Bettina Koller
Friedensfestung
Hubschrauber kreisen über der No-Go-Area Tiergarten. Schwarze Wolken verdunkeln den Himmel, in der Ferne steigt Rauch auf. Berlin brennt. Stau, Streiks und Auschreitungen bestimmen den Alltag, seit vor einem halben Jahrhundert die Lokführer ihre Arbeit niederlegten. In einer der letzten friedlichen Enklaven der Hauptstadt will davon niemand etwas wissen: im Hansaviertel. Im Fenster des wiedereröffneten Supermarktes Bolle hängen Zeitungsnachrichten von vor 50 Jahren: „Unterdurchschnittlich wenige Wohnungseinbrüche im Hansaviertel, auffällig ist allein der Diebstahl aus Kraftfahrzeugen.“ Heute besitzen unter den verbliebenen Hansaviertel-Hardlinern nur noch die Hilfs-sheriffs des Bürgervereins ein Auto. Zu tun haben sie nichts. Im Rest der Stadt sind die Geschäfte mit Brettern vernagelt. Im „peaceful valley“ dagegen, wie die BBC das Hansaviertel nennt, gehören Verbarrikadierungen der Vergangenheit an, seit die Durchfahrten unter der still gelegten S-Bahn-Trasse im Norden und Westen zugemauert wurden. Im Südosten, entlang der Straße des 17. Juni und der Siegessäule, schließt nun ein Betonblock den Wall ums Viertel. Die wenigen Durchgänge zu dieser „gated community“ werden bewacht: Rein kommt nur, wer sich vorher raus traute. Trockene Büsche wehen über die Straßen. Die Versorgung erfolgt per Hubschrauber, die auf dem Alvar Aalto-Haus landen. Früher gab es im Viertel Drogenumschlagplätze und die Love Parade. 2057 ist die Hansahood ein friedlicher Gespensterort. Fabian Soethof
Rostburgen
Als das Hansaviertel 2007 seinen 50. Geburtstag feierte, sahen Denkmalschützer zuversichtlich in die Zukunft: Die Häuser würden auch die nächsten 50 Jahre wohlbehalten überstehen, waren doch gerade erst viele Risse im Beton ausgebessert worden. Doch die Fachwelt hatte ihre Rechnung ohne den Klimawandel gemacht. Starkregen, scharfe Westwinde und extreme Temperaturschwankungen setzten dem nur dünn beschichteten Beton zu. Wasser drang ein und ließ die Armierungseisen rosten. Bereits 2021 stand fest: Umfassende Reparaturen waren nötig geworden. Darüber, wer die hohen Kosten tragen sollte, konnten sich Land, Bezirk und Eigentümer lange nicht einigen. Überzeugte Bewohner des Viertels gründeten daher 2025 eine Bürgerstiftung, die sich für einen Neubau des Viertels auf dem Gelände des stillgelegten Flughafens Tegel im Berliner Norden einsetzte. Was anfangs nur als Drohung gedacht war, hat sich längst verselbstständigt: Unter Schirmherrschaft von Altkanzler Klaus Wowereit konnte der Verein Millionenspenden sammeln. Nachdem im Mai zwei Stützen des Oscar Niemeyer-Hauses eingeknickt waren, hat der Senat vergangenen Montag grünes Licht für Tegel gegeben: Zum 75-jährigen Jubiläum des Hansaviertels 2032 soll die Kopie bezugsfertig sein. Bis zum Abriss des Originals an seinem 100. Geburtstag, so sagte gestern ein Sprecher der regierenden Linksrechts-Partei LRP, sollen in den leerstehenden Gebäuden Obdachlose auf eigenes Risiko wohnen: Mit Flickarbeiten an den Häusern können sie sich ein Los für eines der Apartments erarbeiten. Claudia Wahjudi
Generationencamp
Der Gesellschaft gehen die Kinder aus, und immer mehr Menschen werden immer älter. Im Jahr 2050 kamen auf 80 Rentner 100 Menschen im erwerbstätigen Alter, ein Wert, den das Statistische Bundesamt bereits 2004 annähernd richtig vorausgesagt hatte. In Berlin hat man darum begonnen, die Stadt gleichzeitig für Kinder wie für Senioren attraktiver zu machen, um Anreize zur Familiengründung und für ein generationsübergreifendes Zusammenleben zu schaffen. Als Prototyp des so genannten Mehrgenerationen-Stadtumbaus gilt das Hansaviertel im Tiergarten mit seiner zentralen Lage, den vielen Wohneinheiten und Grünflächen. Seit 2052 haben hier die Stadtplaner nun „Rasen betreten verboten“-Schilder entfernen lassen, viele der kleinen Wohnungen mittels Durchbrüche vergrößert und steile Maisonettetreppen durch Rampen oder Lifts ersetzt. Die Hansabibliothek, ohnehin inzwischen ein Computerterminal, hat ihre leer stehenden Magazinräume zu einem Kindergarten umgebaut. Und auf den Wiesen entstehen derzeit Pavillons für Jugendliche und Rentner, die sich dort gegenseitige Hilfestellung vertraglich zusichern: Die Jungen helfen den Alten beim Einkaufen und Putzen, die Alten stehen den Jungen bei Schularbeiten, Prüfungen und Liebeskummer bei. Sabina Bébié